Viele haben mitgelesen, als Wolfgang Herrndorf sein Online-Tagebuch Arbeit und Struktur geschrieben hat. Die Besonderheit dieses Textes liegt in seiner Entstehung und seinem Kontext: Herrndorf war sterbenskrank, als er mit dem Blog begann. Wie wichtig ist das für die literarische Rezeption des Textes?
»[W]as wäre, wenn sich herausstellte (Gedankenspiel, nicht Unterstellung!), dass Wolfgang Herrndorf gar nicht krank ist?«, fragt die Schriftstellerin Juli Zeh am 07. Juni 2013 auf ihrer Facebook-Seite. Ausgangspunkt für Zehs provokative Spekulation ist das öffentliche Interesse an Wolfgang Herrndorfs Blog Arbeit und Struktur, das er nach der Diagnose eines tödlichen und inoperablen Hirntumors zunächst für Freunde und Verwandte, kurze Zeit später auch für die Öffentlichkeit schrieb. Der Blog dokumentiert die alltäglichen Beobachtungen des Autors seit der Diagnose und erzählt »mit einer überraschenden Leichtigkeit von den letzten und vorletzten Dingen.« Mit dem großen Erfolg seines Romans Tschick wächst das Interesse an Arbeit und Struktur und so werden viele Leser Zeuge von Herrndorfs Kampf gegen die Krankheit, der schließlich mit seinem Freitod am 26. August 2013 endet. Das »gewissermaßen auch fiktive Herrndorf-Beispiel«, wie Juli Zeh ihren Facebook-Eintrag schließlich selbst nannte, stellt den krankheitsbedingten Kontext der Einträge in Herrndorfs Blog in Frage: Welche Rolle spielt die Authentizität für die Rezeption dieses Textes?
Herrndorfs datierte Einträge legen aufgrund ihres diarischen Charakters auf den ersten Blick eine Nähe zur Gattung Tagebuch nahe. Was Philippe Lejeune für die Selbstbiographie mit dem autobiographischen Pakt beschrieben hat, nämlich die Identität von Autor und dem »Ich« im Text, ist ebenso zutreffend für Herrndorfs Online-Tagebuch. Auch hier herrscht eine scheinbare Übereinstimmung zwischen realem Autor, Tagebuch-Ich und Protagonist. Die zahlreichen in den Text eingepflegten fotografischen Selbstportraitaufnahmen des Autors unterstützen diese Lesart. Während sich im klassischen Verständnis das Tagebuch durch Selbstrezeptivität und damit einhergehende Intimität auszeichnet, ist Arbeit und Struktur von Anfang an für eine Öffentlichkeit konzipiert, wenn auch zunächst nur für Freunde und Familie. Das Primat des journal intime wird abgelöst durch eine öffentliche Selbstpraxis, die eben auf ein Publikum abzielt. Dabei hat der Weblog ein durchaus intimes Thema: das Sterben des Verfassers. Herrndorfs Blog ist das Dokument einer dreijährigen, existentiellen Krise, die öffentlich reflektiert und ausgestellt wird. Die Darstellung oszilliert dabei innerhalb des Spannungsfeldes von Fiktion und autobiographischem Geltungsanspruch. Herrndorf unterstreicht sein dokumentarisches Anliegen mit dem eindeutigen Hinweis »Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich sammle, ich ordne, ich lasse aus.« Ein großer Teil der von den Aufzeichnungen Herrndorfs ausgehenden Faszination besteht darin, einen authentischen Eindruck der Gedanken und Erlebnisse des Verfassers zu erhalten, den Autor kennenzulernen. An gleicher Stelle räumt Herrndorf jedoch einen »berufsbedingt[en] ununterdrückbare[n] Impuls« ein, »dem Leben wie einem Roman zu Leibe zu rücken, die sich im Akt des Schreibens immer wieder einstellende, das Weiterleben enorm erleichternde, falsche und nur im Text richtige Vorstellung, die Fäden in der Hand zu halten und das seit langem bekannte und im Kopf ständig schon vor- und ausformulierte Ende selbst bestimmen und den tragischen Helden mit wohlgesetzten, naturnotwendigen, fröhlichen Worten in den Abgrund stürzen zu dürfen wie gewohnt –.« [...]