polar #22: Zukunft der Öffentlichkeit
EDITORIAL
BEGEGNUNG
BLASE
Volker Gerhardt Zu nah am Feuer Das unvergleichlich Neue der digitalen Technik und ihre gerade darin unterschätzte Gefahr. Eine Überlegung in 8 Punkten.
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| Joachim von Gottberg Ă–ffentliche Selbstbindungen Das Prinzip der medialen Selbstkontrolle
| Theresa Züger Die Wahrheit und ihre neuen Kleider Whistleblowing als Ausdruck gesellschaftlicher Wahrheitssuche
| Arnd Pollmann Ist es links? >Postfaktizität< Authentischer Bullshit
| Thomas Hoffmann Ist es links? >Postfaktizität< We’re all living in America
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Christian NeuhäuserIst es links? >Postfaktizität<Gefährliche Post-Phänomene | Das Schlagwort von der Postfaktizität ist in aller Munde. Tatsächlich haben der Brexit und die Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten gezeigt, dass so etwas wie Wahrheitstreue oder auch nur Wahrheitsnähe für Wahlausgänge gegenwärtig keine besondere Rolle spielen. Fast hat man den Eindruck, dass gewählt wird, wer am besten oder zumindest am meisten gelogen hat. Das ist im höchsten Maße besorgniserregend. Dennoch stehe ich dem Schlagwort der Postfaktizität skeptisch gegenüber. Ich bin sogar leicht genervt, weil ich den Eindruck habe, dass diese griffige Formel einen falschen Schwerpunkt setzt - wieder einmal, wie ich finde.
Es ist ganz ähnlich, wie bei anderen Postphänomenen und -diagnosen: Postmoderne, Poststrukturalismus, Postdemokratie, Postkolonialismus, Postkapitalismus, Postgeschichte, Posthumanismus. Hinter diesen Schlagwörtern verstecken sich oft reale Probleme, und es ist wichtig, sie anzusprechen. Aber manchmal laufen diese Diagnosen Gefahr, falsche Weichen zu stellen. Postkoloniale Theorien können beispielsweise einen Teil zu Unversöhnlichkeit und zu einem Kampf der Kulturen beitragen. Poststrukturalistische Thesen spielen manchmal den Mächtigen in die Hände, wenn etwa deren Macht angeblich in den Korridoren verschwindet. Es kommt auch vor, dass Postdiagnosen nicht gut belegt sind. Die recht schillernden Entwürfe der Postdemokratie oder des Postkapitalismus beispielsweise werden von ihren Protagonisten nicht gerade an harten Fakten ausgewiesen. Dahinter steckt nicht selten die Not, in einem zunehmend reißerischen wissenschaftlichen Betrieb möglichst aufsehenerregende Thesen produzieren zu müssen. Das zwingt »Post«-Docs dazu, sich nicht so sehr um die Welt, sondern im Interesse der eigenen Karriere vor allem um die akademische Welt zu kümmern.
Die These von der Postfaktizität ist meiner Einschätzung nach mit ähnlichen Problemen belastet. Der Sache nach ist es richtig, dass in der Politik gegenwärtig erschreckend viel gelogen wird. Es ist auch richtig, dass das nicht abgestraft wird. Donald Trump, Marine Le Pen, Frauke Petry und Boris Johnson haben Aufwind. Aber wenn wir dieses Phänomen mit dem Wort der Postfaktizität belegen oder sogar ein postfaktisches Zeitalter ausrufen, laufen wir Gefahr, das Problem unnötig zu vertiefen und sogar zu zementieren. Denn es könnte sein, dass wir dann ein bloßes Symptom mit einer Ursache verwechseln.
Man darf von der Tatsache, dass Lügenbolde und ihre Programme politische Mehrheiten finden, nicht darauf schließen, dass die Mehrheit der Wähler*innen kein Interesse an Fakten und der Wahrheit mehr hätte. Es könnte auch sein, dass sie sich des Problems zwar irgendwie bewusst sind und trotzdem so abgestimmt haben. Das wäre eine gute Nachricht, denn dann wären all diese Menschen nicht völlig irrational, sondern rationalen Gründen weiterhin zugänglich. Mir fallen drei mögliche Erklärungen ein, die in diese Richtung weisen: Erstens haben sich in den vergangenen Jahren insbesondere ökonomische Expert*innen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Lange Zeit galten gerade Ökonomen als besonders expertenhafte Experten, und sie haben sich auch so verhalten. Aber die anhaltenden ökonomischen Krisen hat die Mehrheit von ihnen weder vorhergesehen, noch scheinen sie gute Antworten und Lösungsvorschläge parat zu haben. Eigentlich streiten sie sich zurzeit nur. Solch eine öffentliche Selbstdemontage etablierter Expert*innen kann schon zu erheblicher Unsicherheit führen. Vor allem wenn diese Expert*innen zuvor ihre offensichtlich ziemlich falschen Meinungen gern als Faktenwissen verkauft haben.
Zweitens ist es so, dass der öffentliche Diskurs zu komplizierten politischen Fragen häufig in einer Sprache und einem Gestus stattfindet, die eher exkludierend als inkludierend sind. Wenn Menschen sich ausgeschlossen sehen und kein hinreichender Versuch gemacht wird, ihnen die wesentlichen politischen Inhalte und Probleme in ihrer Sprache zu vermitteln, dann bleibt ihnen nur noch ihre »gefühlte« Meinung als politischer Orientierungspunkt. Drittens kann es sein, dass für viele Menschen die tatsächliche Faktenlage und das, was sie sich von der Politik für ihr Leben erhoffen, sehr weit auseinander liegen. Der psychologischen Theorie der kognitiven Dissonanz zufolge kann es dann vorkommen, dass nicht die eigenen Wünsche, sondern vielmehr die Fakten geleugnet werden. Das ist nicht blanke Irrationalität, sondern beschränkte Rationalität - und ganz normal. Die zentrale Frage ist dann bloß, welche äußeren Faktoren zu diesem eklatanten Missverhältnis führen.
Alle drei Erklärungen suchen den Grund für das Problem der Postfaktizität nicht in dem Versagen der Bürger*innen, sondern in den gesellschaftlichen Widersprüchen, die möglicherweise in den letzten Jahren zugenommen und ein kritisches Ausmaß erreicht haben. Dort sollte man auch zuerst suchen, sonst kann es mit der Diagnose der Postfaktizität schnell gefährlich werden. Diese Formel spricht dann gerade nicht die eigentlichen Probleme an, sondern verschleiert sie bloß. Sie kann zudem missbraucht werden. Der angeblich liberale Theoretiker Jason Brennan etwa nutzt sie, um in seinem momentan viel diskutierten Buch »Against Democracy« gegen ein Wahlrecht auch für »Dumme« zu argumentieren und stattdessen eine »Epistocracy« zu fordern.
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