Thomas Meinecke ist eine Figur in seinem Roman Selbst. Das mag nicht nur seinen Leser/innen ungewöhnlich vorkommen, auch seine Romanfiguren werden nach einer Weile misstrauisch: »Venus sagt: Manchmal habe ich das Gefühl, Thomas schreibt einen Roman über uns. Eva: Henri und Homer haben ebenfalls etwas in der Richtung verlauten lassen. Sirius fragt: Aber was will er von euch? Eva setzt nach: Was macht er mit uns? Und Venus: Was macht er aus uns?« Und die Leser/innen fragen: Was macht Thomas da? Die einfache Antwort ist: Genau das gleiche wie der historische Thomas Meinecke. Lesen, auflegen, Bücher schreiben. Manchmal unterhält er sich. Beispielsweise mit Homer und Henri, dessen Vorname unter anderem als Referenz an Marie-Henri Bleyle, genannt Stendal, lesen könnte, dessen geschlechterübergreifender Vorname thematisch gut in das Figurenrepertoire passen würde.
Ein anderer Kollege Meineckes, Christian Kracht, läuft dagegen rückwärts eine Auffahrt in den Bergen über Los Angeles nach oben. Dann läuft er sie wieder nach unten. Er hat hellblonde Haare, die vorne zu langen Strähnen gewachsen sind, die er nach hinten über den Kopf legt, eventuell um beginnenden Haarausfall zu kaschieren. Er trägt einen gepflegten Vollbart. Über einen der Protagonisten seines aktuellen Romans Die Toten schreibt er: »Nägeli gingen die hellblonden Haare aus, sowohl über der Stirn als auch am Hinterkopf; er hatte begonnen sich eine langgewachsene Strähne von der Schläfe her seitwärts über die so verleugnete Glatze zu kämmen; um das unmerklich weiter erschlaffende Doppelkinn zu verbergen, hatte er sich einen Vollbart wachsen lassen [...]« Bei Kracht wird die Fiktion immer wieder übergriffig. In seinen Romanen treten einerseits historische Personen auf, die sich nicht ganz an die Fakten ihres Lebens halten. In umgekehrter Richtung läuft die Grenzüberschreitung von den Figuren zu Kracht selbst. Der Schriftsteller scheint von ihnen so durchdrungen zu sein, dass sich sein Aussehen an sie annähert. Der Auftritt als Nägeli im Interview mit dem Kulturjournalisten Denis Scheck fand übrigens in Los Angeles statt. Die US-amerikanische Stadt hat mit Hollywood einen Sehnsuchtsort der Filmschaffenden hervorgebracht. Nur einen zieht es nicht dorthin: Den Filmregisseur Nägeli, der im Roman - die Ereignisse sind Anfang der 1930er Jahre zu situieren - lieber in Japan die Nouvelle Vague erfindet. Seit seinem ersten Roman verfolgt Kracht gelegentlich die Strategie in der Öffentlichkeit als Stellvertreter seiner Protagonisten aufzutreten: als pubertierender Dandy nach Faserland, als zotteliger Esoteriker nach Imperium und jetzt eben als alternder Filmregisseur. Während Meinecke sich in seinen Roman hineingeschrieben hat, hat Kracht seinen Protagonisten, wenn man so will, hinausgeschrieben. Während man bei Meinecke von einem Authentizitätseffekt sprechen könnte, erzeugt Kracht einen Artifizialitätseffekt, der umso irritierender ist, da er sich damit selbst in eine Reihe mit den historischen Figuren aus Die Toten, beispielsweise mit Charlie Chaplin, stellt. Kracht gibt mit seinem Titel auch das Stichwort, um die beiden Fälle zu verbinden: Wie Gespenster scheinen die Autorenfiguren aus dem Reich der Toten zurückzukehren. Meinecke sucht seinen Text heim, den er trotz Anwesenheit nicht mehr verändern kann, auch er - man denke an den Titel des Romans - selbst, ist dem Spiel der Sinneffekte ausgesetzt. Kracht dagegen spukt in der Öffentlichkeit jenseits des Romans als Wiedergänger einer Figur, die es nie gegeben hat. Letztlich ist er gegenüber dem Text seines Romans genauso hilflos wie Meinecke, der sich in ihm verewigt.
Meineckes und Krachts Gespenster sind die Folge der literarischen Moderne und ihrer theoretischen Reflexion in Frankreich. Maurice Blanchot, Proto-Poststrukturalist und Stichwortgeber für Derrida, Barthes und Foucault hat die Ursprünge dieses Geisterreichs grundlegend zuerst in seinem Essay Die Literatur und das Recht auf den Tod dargelegt. »Ich sage: Diese Frau. Hölderlin, Mallarmé und im Allgemeinen all jene, deren Dichtung das Wesen der Dichtung zum Thema hat, haben im Akt des Benennen ein beunruhigendes Wunder gesehen. Das Wort gibt mir das, was es bezeichnet, es zunächst aber zu beseitigen. Damit ich ›Diese Frau‹ sagen kann, muss ich ihr auf die eine oder andere Weise die leibhaftige Wirklichkeit entziehen, sie abwesend machen und vernichten.« Diese Vernichtung, der sich Meinecke und Kracht vermeintlich entziehen, indem sie als leibhaftiger Meinecke beziehungsweise leibhaftiger Nägeli auftreten, um dem literarischen Akt des Benennens die Referenz zurückzugeben, wirkt nichtsdestotrotz und die beiden postmodernen Autoren werden gespenstisch. Blanchot lässt schon im Titel die existenzielle Dimension dieses Spiels anklingen, das er durch seine Metaphorik zu einem auf Leben und Tod macht. Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade er sich als Abwesender inszenierte, mit engen Freunden wie dem Philosophen Emmanuel Levinas mitunter jahrelang nur per Brief kommunizierte, ohne sich in reallife zu begegnen. Dass er sich in das Dorf Èze zurückzog und von dort aus schrieb, ohne im intellektuellen Zentrum Paris zu erscheinen, also seine Abwesenheit kultivierte, ist genauso programmatisch wie die Anwesenheit von Meinecke oder Kracht in ihren Romanen.Maurice Blanchot: »Die Literatur und das Recht auf den Tod«, in: Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente, übers. v. Marcus Coelen, Zürich, Berlin: Diaphanes 2013, S. 47-92. Christian Kracht: Die Toten, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016. Thomas Meinecke: Selbst, Berlin: Suhrkamp 2016.
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