Das nicht von vornherein Geteilte Im Dienste des Comic heute ein verlängerter Anlauf: Die Zukunft unserer Demokratie wie auch der Solidarität entscheidet sich zu allererst im Kampf um den öffentlichen Raum. Öffentlicher Raum verstanden als die Orte, an denen sich nicht das von vornherein bereits Geteilte nur noch wechselseitig verstärkt, sondern an denen Unterschiede aufeinandertreffen können. Gerade weil wir die Anderen als Gleiche begreifen, sollten wir ihre unterschiedlichen Auffassungen, Umstände, Interessen und Wünsche sehen und als Aufforderung zur Auseinandersetzung begreifen. Dem entgegen scheint der Rückzug ins Homogene, in die eigene Blase, das Gebot der Stunde. Man will unter sich bleiben, es nicht »ertragen«, dass andere unter anderen Umständen leben, die Dinge anders sehen. Entsprechend hart wird daran gearbeitet, die Unterschiede unsichtbar zu machen - die sozialen, aber auch die politischen. Die Unsichtbarmachung wird vorangetrieben durch die Schließung all der Räume, in denen wir unser Leben vollziehen, in denen wir lernen, arbeiten, uns unterhalten, einkaufen oder essen. Die Schließungen finden statt über die Pforte der ökonomischen Liquidität, aber auch durch die nicht minder harte Tür der kulturellen Codes und Kompetenzen. Oft liegen die Unterschiede nur einen Steinwurf entfernt, man glaubt fast den Atem der Anderen im Nacken zu spüren, huscht je nach Straße aneinander vorbei, auf dem Weg zu den unterschiedlichen Orten, in die unterschiedlichen Läden.
Der aggressive Wunsch, unter sich zu bleiben, niemanden anderen rein zu lassen, ist keine Neuigkeit, ist als Entgegnung so alt, wie die Ideen der Demokratie und der Solidarität selbst, die - wie defizitär auch immer gedacht - fundamental auf öffentliche Begegnung angewiesen sind. Neben der ökonomischen Auseinanderentwicklung ist es heute aber ausgerechnet die Digitalisierung, die, zum jetzigen Entwicklungsstand, in einem doppelten Sinn die Zersetzung öffentlicher Räume forciert. Einst zu einem utopischen Raum sozialer Egalisierung verklärt, entpuppt sich das Netz zunehmend als ein Raum, in dem sich nicht nur die Algorithmen als besonders harte Türsteher erweisen, sondern in denen Menschen offenkundig die technischen Möglichkeiten finden, sich vollends in die narzisstische Echokammer der eigenen Weltsicht einzuschließen. In der digitalen Welt muss man sprichwörtlich gar nicht mehr »vor die Tür«.
Schaufenster zur Welt Hinzu kommt, dass mit der Digitalisierung zahlreiche analoge Räume unter Druck geraten, in denen sich Öffentlichkeit auf Grund ihres kulturellen Angebots herstellte und nach wie vor herstellt. Sei es als Nebenprodukt, es müssen halt alle hin, sei es als der eigentliche Thrill, mal schauen, wer und was sonst noch so da ist. So fand sich für all die Videothekenbesucher/innen der Gore-Film nur ein Regal neben Fellini. Das Naabtal Duo war im Plattenladen nicht weit von Napalm Death entfernt. Im Zeitschriften- und Buchladen lag die Bild mitunter nicht weit von der Spex, Simmel nicht weit von Sartre. Der faszinierte Blick als Jugendlicher in die Schaufenster-Anordnungen der Kleinstadt, in denen zusammen kam, was nicht zusammen gehörte.
Diese Räume werden vielfach nostalgisch verklärt, doch man sollte sich keine Illusionen machen: auch in ihnen wurde nicht unbedingt viel gesprochen, die Auswahl war klein, vieles gab es schlicht gar nicht, und zudem wünschte man sich kulturelle Räume, die sich der öffentlichen Einsehbarkeit durch die Erwachsenen entzogen. (Gerade um im öffentlichen Raum Sichtbarkeit zu erlangen, muss man im geschlossenen Raum Energie aufnehmen.) Und doch stellten diese Räume Öffentlichkeit her. Es waren Räume, an denen sich zumindest aus dem Augenwinkel andere Welten und Möglichkeiten andeuteten. Über die Produkte ebenso wie über die Menschen, die sich für sie interessierten.
Die räumliche Limitiertheit dieser Läden führte in Kombination mit der kuratorischen Subjektivität (und auch Willkür) der Ladenbetreiber zu einer Repräsentation unterschiedlicher Positionen, Formen und Gattungen, zu einem Kaleidokop unterschiedlicher Verständnisse von und Positionen in der Welt. Mit den Möglichkeiten der digitalen Reproduzierbarkeit von Kunst erfolgt eine Dematerialisierung (besser Zentralisierung) von Trägermedien, die die Notwendigkeit eines physischen Angebots im limitierten Raum eines Ladens obsolet macht. (Die Ladenfläche verschwindet dadurch nicht, sondern wird als digitale tendentiell unendlich groß, muss also keine irgendwie repräsentative Auswahl mehr treffen.) Gleichzeitig tritt damit die kuratorische Subjektivität der Ladenbetreiber hinter den digitalen Empfehlungsformeln eines antizipierten Käuferverhaltens zurück.
Ein reaktionäres »Analog ist das neue Bio« wird dabei dem digitalisierungsgetriebenen Verlust öffentlicher Räume nicht viel entgegen setzen können. Und auch die Flucht in analoge Trägermedien wie Vinyl als Objekt von Werterhalt und Wertsteigerung (analog zur Bildenen Kunst) mag zwar die Spießer neu zusammenbringen, nicht aber den öffentlichen Raum zu vitalisieren. Insofern bleibt es die vordringliche gesellschaftliche Aufgabe im Netz selbst öffentliche Räume herzustellen und am Leben zu halten. Wir sehen etwa anhand der Debatte um den öffentlich-rechtlichen Auftrag im Netz, wie sehr wir damit am Anfang stehen, den digitalen Raum (auch) als öffentlichen zu begreifen. Die »große Samstagabendshow« wird es im Netz nicht mehr geben. Gefragt ist aber der gesellschaftliche Wille zu vielen öffentlichen Plattformen, in denen unterschiedliche politische, soziale und kulturelle Positionen in einem Raum sichtbar und verhandelt werden. Und gefragt ist ebenfalls eine technische Vernunft, die im öffentlichen Interesse etwa Algorithmen zur Herstellung von unvorhergesehenen Begegnungen mit anderen Lagen und Perspektiven entwickelt. Was wir brauchen sind Formeln, die die Blasen sprengen, anstatt sie zu erzeugen.
Was der digitale Raum vermutlich nur schwer erreichen kann, ist die Menschen als Ganze - mit verschiedenen Eigenschaften - durch das Nadelöhr eines kulturellen Interesses in den gemeinsamen Raum zu holen. Was im analogen Raum mitunter nur der äußere Anlass der Zusammenkunft ist, und schnell zu weitergehenden Begegnungen führen kann, wird im digitalen Raum aufgrund seiner systemischen Auffächerung in aller Regel der ganze Ausschnitt bleiben. Deshalb macht es auch Sinn, neue analoge Räume zu schaffen, die auf den Anlass des Erwerbs eines künstlerischen Produkts gleich ganz verzichten und sich gleich nur noch auf den kulturellen Austausch konzentrieren, Filmclubs, Literaturclubs etc. [...]
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