Ich hasse viele meiner Freunde, also meiner Facebook-Freunde, da sie immer Bilder ihrer Kinder posten. Wie können sie nur? Auch ich habe die vergangenen sechs Monate mit einem sehr jungen Kind verbracht. Aber anstatt dieses um meiner Selbstdarstellung und also -optimierung willen visuell einer mit Gesichtserkennungssoftware ausgestatteten Weltöffentlichkeit auszusetzen, veröffentliche ich hier des Kindes Klänge, die soll die polar lesende Weltöffentlichkeit unbedingt kennen, denn sie geben einerseits in Print-Form, wie der Engländer sagt, nicht zuviel weg, und sind andererseits natürlich die besten Kinderklänge aller Zeiten, viel besser als die der Kinder aller meiner anderen Freunde, egal ob bei Facebook oder anderen Stätten des öffentlichen Wettbewerbs, wie ja auch ich viel besser als alle anderen bin. Und schließlich geht es hier ja auch um Musik. Die Klänge gehen so: »Da! Da! Da! Da! Da! Da! Da! Da! Da! Da! Ktktktktktktktktktkt Ratteratteratteratteratteratteratteratteratterattera ktktktktkt Da! Da! Da! Da! Da! Da!« Seit einem halben Jahr schon! Jetzt können Sie, liebe Leser, unter diesen Zeilen mit Bleistift eine Kommentarspalte einrichten und »yolo« oder »dein Kind ist sehr gut« oder »bald mal wieder Bier?« hineinschreiben.
Bier trinken war ich aber auch ein paar Mal, denn ich musste ja auch ein bisschen arbeiten. Als nebenberuflicher Konzertrezensent bin ich in der Lage, zuhause das Biertrinken gehen - denn darum handelt es sich ja vor allem beim Besuchen von Popkonzerten - als berufliche Tätigkeit rechtfertigen zu können. Ausnahmsweise mal bierlos blieb ich allerdings beim Konzert der von der Chicagoerin Haley Fohr erdachten Kunstfigur Jackie Lynn, das am Vorabend der U.S.-Präsidentschaftswahl in der Berghain Kantine stattfand - ich war mit dem Auto gekommen! Mit dem Auto zum Berghain fahren ist ein unbeschreibliches Gefühl. Egal - das Konzert war recht gut, Fohr alias Lynn trat in Cowgirlkleidung und hinter einem dünnen Laken auf, das von hinten anprojiziert wurde, spielte melancholischen Country-Krautrock und sang in ihrer erstaunlichen, tiefen Post-Gender-Gothic-Stimme dazu. Durch die Projektionen auf das Laken sah man vor allem ihren Schatten, konnte sie in dessen Mitte allerdings verschwommen ausmachen. Dazu schrieb ich, da man im Feuilleton ja gerne etwas bedeutungsschwanger wird: »Ihr Schatten offenbarte sie also. Und genau darum ging es: Um gefühltes Schattendasein, egal ob selbstgewählt oder aufgezwungen, und was ein solches Dasein im Menschen hervorbringt - egal, ob in privaten Beziehungen, ob als Künstler - Öffentlichkeit gleichermaßen meidend wie suchend -, oder als gesellschaftlich marginalisierter Brexit-Befürworter oder Donald-Trump-Wähler. Denn, so verdeutlichte uns die traurig pulsierende Musikdarbietung der schattigen Kunstfigur Jackie Lynn: auch unter eigenem Namen ist ja eigentlich jede Person, sobald in Kontakt mit anderen Menschen, immer Kunstfigur, eine vorbereitete, editierte, aufs Betrachtet-Werden hingearbeitete, mindestens semi-fiktionale Version ihrer selbst.«
Vergnüglicher war es einige Tage zuvor bei The Fall zugegangen, die ihr ca. siebenhundertstes Album im SO36 vorgestellt hatten und gewiss in dieser Kolumne schon mal vorkamen, was mir aber schnuppe ist, da The Fall ja genau betrachtet die beste Band der Welt ist - und ihr einzig wirkliches Mitglied Mark E. Smith gewiss jemand, von dem man dieser Tage behauptet, es sei ein Segen, dass es ihn noch gäbe, denn die Weltöffentlichkeit brauche ihn mehr denn je. Und obwohl Smith, mittlerweile komplett zahnlos, dafür aber nach wie vor einem stark angetrunkenen Hausmeister aus der Hölle gleichend, mit seinem wütenden Gelalle nicht nur meinem Kind, sondern auch Donald Trump ähneln könnte, tut er es eben nicht, sondern hat durchaus antidotische Wirkung. Also gegen den Trump-Depressions-Effekt. Obwohl, gelegentlich auch gegen den Baby-Hüttenkollereffekt, ehrlich gesagt. Probieren Sie es selbst!http://www.thrilljockey.com/artists/jackie-lynn http://thefall.xyz/ |