Liebe Leserin, Lieber Leser, »Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit in einer Welt in der nichts sicher scheint« singen die Chart-Breaker Silbermond und treffen damit den Zeitgeist. Während früher »Wagnis« und »Risiko« die Zauberworte waren, so scheint es heute gerade der Schutz vor den Risiken der Welt zu sein, der schon die Jugend umtreibt. Vom Rest ganz zu schweigen. Entsprechend sehen etwa die Goldenen Zitronen in Silbermond »die unwidersprochene Speerspitze des popkulturell verhandelten Sicherheits-Dispositivs«. polar geht diesem neuen Sicherheitsbegehren in seiner neuen Ausgabe nach.
Sicherheit war bislang die Leitmelodie der Konservativen. Heute vernimmt man das Leiden an Flexibilisierung und Mobilisierung auf allen Seiten. »Lebe wild und gefährlich« - das war einmal. Unter dem Eindruck von Prekarisierung und De¬solidarisierung, Terrorgefahr und Arbeitswandel, Finanzkrise und Klimazerstörung hat sich die Matrix verschoben. In einer entsicherten Welt wächst die Nachfrage nach Stabilität. Angst scheint der Ratgeber der Stunde. Ein guter Ratgeber?
Wenn wir über Sicherheit reden, reden wir auch über Freiheit. Freiheit kann Sicherheit gefährden, aber gelebte Freiheit setzt Sicherheit voraus. Frei ist nur, wer Wahlmöglichkeiten hat. Und wer hinfällt muss auch wieder aufstehen können. Freiheit heißt auch, Bindungen einzugehen, sich festzulegen. Was geschieht eigentlich unter dem neuen Sicherheits-Dispositiv mit unseren Wünschen nach Selbstbestimmung und Emanzipation? Was mit unserer Vorstellung von Arbeit?
polar geht diesem schwierigen Zusammenhang in seiner 11. Ausgabe nach. Es geht um das Widerspiel von Sicherheit und Risiko mit Blick auf alle Lebensbereiche. Ein Heft über innere und äußere Sicherheit, über Sozialstaat, Casino-Kapitalismus und eine Politik der Angst.
Eröffnet wird das Heft mit dem Versuch einer Verhältnisbestimmung zwischen Sicherheit und Freiheit. (Münkler, S. 9). In seiner begrifflich literarischen Nachzeichnung von securitas als Paradox von Sorge und Sicherheit verweist uns John T. Hamilton (S. 21) auf die Frage der Lebensführung, die als grundsätzliche Verknüpfung von Sicherheit mit der Vorstellung eines guten Lebens untersucht wird (Vesper, S. 29) sowie den unstillbaren Anspruch auf soziale Sicherheit in der Neujustierung des Sozialstaats in Frage stellt (Vogel, S. 43).
Drei Erfahrungsberichte blicken auf äußere und innere Sicherheit jenseits von Deutschland: In Bengasi begegnet uns die Frage nach dem Zusammenhang von Demokratie, Sicherheit und Intervention (Biebricher S. 80), in Israel Phänomene eines gegen sich selbst gerichteten Sicherheitssystems (Misselwitz, S. 77), und in Taiwan der Versuch, äußere Gefahr durch die Unterstützung der nachbarlichen Demokratisierungsprozesse zu bannen (Neuhäuser, S. 73). Christopher Daase beschreibt in seinem Beitrag die Verschiebung des Sicherheitsverständnisses im globalen politischen Raum (S. 89).
Die allgegenwärtigen Maßnahmen der inneren Sicherheit systematisiert Kendra Briken als Privatisierungs- und Kommerzialisierungsakte, die auf eine neue Qualität der Überwachung verweisen (S. 95). Mit Mark Neocleous gehen wir dem Zusammenhang von Sicherheit und Ware nach (S. 101).
Das Begehren nach Sicherheit führt uns zu den strukturellen Veränderungen der Arbeitswelt. Thomas Biebricher und Frieder Vogelmann fordern die Absicherung von Risiko für das unternehmerische Selbst (S. 15), Alexandra Rau untersucht die Arbeit am Selbst als Psychopolitik der Angst (S. 109).
Sicherheit und Gesundheit verschränken sich beunruhigend im gegenwärtigen Präventionsdiskurs (Bröckling, S. 51) aber subversiv als biopolitische Frage im Film (Setton, S. 35). Inszenierungsmechanismen bilden den Hintergrund für unseren Fokus auf visuelle Medien: untersucht wird das Bild als politisches Zeugnis (Kammerer, S. 157) und Hollywoods Legitimierungsstrategien des Ausnahmezustands (Bächler, S. 169).
Wider die Unsichtbarkeit zieht es uns in den Gesprächen auf die Straße: als Liebende (Rösinger, S. 56), Radfahrer (Kaiser/Barnick, S. 124) und Protestierende (Trojanow, S. 148).
»Nickt der Kopf nur noch mit weil die Furcht alles ist und das Leben nur im Fünfwürstchengriff?« (Turbostaat).
Hoffentlich nicht.
Für die Redaktion
Peter Siller, Bertram Keller