Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #4: Über Arbeiten



Editorial

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



ANSCHLUSS

 
Ralf Obermauer
Die Hölle, das ist ohne die Anderen
Tätigkeit und sozialer Sinn in politischen Diskursen
 
Axel Honneth
Arbeit und Anerkennung
Versuch einer Neubestimmung
 
Anton Leist
Ausstieg oder Ausbildung
Ein Vorschlag zur Arbeitsgesellschaft jenseits von Marx und Gorz
 
Birger P. Priddat
Wert, Kompetenz, Kommunikation, Spiel
Elemente einer modernen Theorie der Arbeit
 
Chrisitan Neuhäuser
Was machen Sie eigentlich so?
Arbeit, Arbeitslosigkeit und WĂĽrde
 
Neue Deutsche Sprachkritik
>Was bin ich?<
Der wahre Text
 
Nina Apin
Tren Blanco – Der Weiße Zug
Die MĂĽllsammler von Buenos Aires
 
»Menschen mit schmutzigen Händen«
Interview mit Ali Witwit
 
Christophe Dejours
Suizid am Arbeitsplatz
Zur Psychopathologie der modernen Arbeitswelt
 
Aram Lintzel
Sinncontainer
>Debatte<
 
»Die neue Verwundbarkeit«
Interview mit Robert Castel
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus
>Paradise lost<



HIRN

 
Judith Revel und Antonio Negri
Die Erfindung des Gemeinsamen
Acht Thesen zur Transformation der Arbeitswelt
 
Don Tapscott
Unternehmen 2.0
Die neue Ă–konomie gemeinschaftlicher Zusammenarbeit
 
»In der Wissensökonomie könnte Geld unnötig werden«
Interview mit André Gorz
 
Johannes Albers
»Polke, du faule Sau«
Faule Künstler im Zeitalter von Rekordumsätzen über die dann in der Gala berichtet wird
 
Kendra Briken
Hirn und Muskeln
Arbeit in der Wissensgesellschaft
 
Tim Caspar Boehme
Macht sauber, was euch kaputt macht
Kunstpraxis als gesellschaftliches Dialogfeld
 
»Arbeit im Reich der Freiheit?«
Streitgespräch mit Katrin Göring-Eckardt und Katja Kipping
 
Adrienne Goehler
Nicht mehr und noch nicht
Die Hauptstadt als Laboratorium einer Kulturgesellschaft
 
»Festanstellung ist der Tod«
Holm Friebe, Adrienne Goehler, Christiane Schnell und Melissa Logan im Gespräch
 
Alexandra Manske
Kreative Superstars
Die soziale Platzierungsstrategie der »Digitalen Bohème«
 
Arnd Pollmann / Anja Wollenberg / Stefan Huster / Peter Siller
Ist es links?
>Selbstbestimmung<
 
Christoph Raiser
Mein halbes Jahr
>Musik<
 
Simon Rothöhler
Mein halbes Jahr
>Film<
 
Peter Siller
Mein halbes Jahr
>Literatur<



SPIEL

 
Michael Eggers
Lustspiele und Frustspiele
Die Welt der Manager und Praktikanten als offenes Drama
 
»L-L-Löwenbändiger!!!«
Interview mit der Berufsberaterin Uta Glaubitz
 
Klaus Dörre
Ausweitung der Prekaritätszone
Vom Ende der Arbeitsgesellschaft, wie wir sie kannten
 
Dominik Walther
Schuften im Weltall
Filmische Zukunftsszenarien jenseits von Grundeinkommen und Vollbeschäftigung
 
 

Judith Siegmund

Berufung – Job – Maloche

Kunst mit Arendt zum Ende der Arbeit


Die Konzept- und Videokünstlerin und Philosophin Judith Siegmund brachte im Sommer 2006 in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten in Hannah-Arendt-Lesekursen zusammen und bat sie anschließend um ein Statement vor der Kamera . Im Mittelpunkt der Kurse stand das Thema »Arbeit«: als Theoriebegriff bei Arendt, vor allem aber als Sphäre einer Erfahrung, die einmal vertraut war und die sich heute zu entziehen beginnt . Die gedachte Ordnung der Vollbeschäftigung ist zerfallen und Arbeitslosigkeit beginnt sich neu zu organisieren . Improvisation, Irritation und Ungewissheit zeigen sich als Teil der Lebenswirklichkeit . Das Projekt wurde anschließend als Schrift- und Videoinstallation in Ausstellungen gezeigt .

Die Städte, die an der Zuglinie zwischen Berlin und Erfurt liegen, seien verwunschene Märchenreiche, die langsam verfallen und von der Natur wieder überwuchert werden, die nun wieder in der Versenkung verschwinden. So in etwa erzählte es mir ein Akademiker der - pendelnd zwischen Berlin und Erfurt - auch Weißenfels regelmäßig kreuzt, auf einer Berliner Party. Die Leute, die in diesen Märchenstädten wohnten, seien die Zurückgelassenen, solche, die es nicht geschafft hätten, wegzugehen. Diese poetische Beschreibung des westdeutschen Blicks auf ostdeutsche schrumpfende Städte ist wohl exemplarisch für eine bestimmte Außensicht auf die Region, in der Weißenfels liegt. In den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, aus der Blickrichtung der großen Städte, aus der Perspektive der Universitäten (deren Mitarbeiter zu ihren Veranstaltungen anreisen, um dann wieder zu verschwinden) liegt Weißenfels in einer Region des Verfallens und Verschwindens. Mit solch einer Beschreibung bekommt das Wort »Leuchtturm«, das als Maßstab sowohl auf Universitäten als auch auf kulturelle Institutionen angewandt wird, eine ganz metaphorische Bedeutung. Die Leuchttürme schauen hervor aus dem organischen Meer der Hartz-IV-Empfänger, der Industrieruinen und der Dagebliebenen. Aber zwischen denen, die solche Beschreibungen vornehmen, und denen, die beschrieben werden, scheint es keine Kommunikation zu geben. Das erinnert an einen Gedanken von Jacques Rancière, der in seinem Buch La Mésentente (dt.:Das Unvernehmen) Subjekte, »die im Gespräch gezählt werden«, von denen, die nicht gezählt werden, unterscheidet. Die Metapher des »Gezählt-Seins« beschreibt nicht die inhaltliche Qualität des Gesagten, sondern die Bedeutung, die den Sprechenden bereits vor dem Sprechen zukommt - oder eben nicht.

Durchreisende führen die Debatte über die kleinen Städte und haben den Status und Einfluss, deren Situation mit ihren Argumenten zu definieren. Da Durchfahren eine Art ist, sich zu entziehen (und nicht eine Art, sich zu beteiligen, wie das ein bildungsbürgerlicher Begriff des Reisens vielleicht nahelegt), können die Durchfahrenden nicht vernehmen, was die Leute, deren Weg sie kreuzen und über die sie reden, selbst zu sagen hätten. Den Bewohnern wird – wie Rancière es beschreiben würde – der Status des sprechenden Subjekts gar nicht erst zuerkannt. Ihre Äußerungen werden nicht als Worte verstanden, die Teil einer wirklichen Kommunikationssituation sein können, sondern als Laute, die entsprungen sind der »Tierheit des Geschöpfs, das bloß dem Lärm, der Lust und dem Schmerz bestimmt ist«. Aber vielleicht ergänzen sich auch beide Seiten in dem Sinn, dass die Bewohner der schrumpfenden Stadt es schon gewohnt sind, sich selbst mit den Argumenten zu beschreiben, die sie zum Beispiel in der Zeitung über sich lesen.

Marx meets Arendt
Zwischen Jacques Rancières und Hannah Arendts Begriff der Politik gibt es (auch wenn sie sich voneinander unterscheiden) systematische Gemeinsamkeiten. Das Subjekt, das sich »als Sprecher zählen lässt, muss so tun, als ob die Szene existierte, als ob es eine gemeinsame Welt der Argumentation gäbe...« Der performative Charakter des »als ob«, das Politik herstellt, erinnert deswegen an den Politikbegriff bei Hannah Arendt, weil es auch Arendt um Partner im Sinne von Gleichen geht, deren Handeln in der Öffentlichkeit stattfindet und diese Öffentlichkeit verändert. Arendt ist eine politische Denkerin von der »anderen« Seite, der Seite der Durchfahrenden. Es gab in der DDR so gut wie keine Arendt-Rezeption. Außer in sehr kleinen oppositionellen Kreisen, die Arendt in den 80er Jahren lasen, war sie niemandem bekannt. Mit Arendt nach Weißenfels zu kommen, interpretiere ich daher als eine Art Basisarbeit in Bezug auf die Herstellung des Rancièreschen »als ob«. D.h. ich lese mit den Weißenfelsern Arendt, so als ob sie in der Diskussion über Arendts Gedanken zur Arbeit und in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion zur Lage der Arbeit etwas zu sagen hätten und auch gehört werden würden. Mit Arendt selbst lässt sich das als Handeln, das immer schon politisch ist, beschreiben.

Was ist passiert? Die Videos zeigen, dass die Menschen, die an den Lesekursen teilnahmen, sehr viel zu sagen haben: erstens zur Rolle und Bewertung der Arbeit in unserer Zeit und zweitens zu Arendts Definition von Arbeit mit der ihr inhärenten Trennung des Öffentlichen vom Privaten. Immer und immer wieder wurden Arendts Gedanken von den Kursteilnehmern ins Verhältnis gesetzt zum Arbeitsbegriff von Karl Marx und zur Marxschen Idee des ökonomischen Unterbaus, die sich gut verträgt mit neoliberalen Vorstellungen über die Freiheit des kapitalistischen Marktes. Die Redebeiträge der Teilnehmer verdeutlichen, dass es eine bestimmte Kultur des Denkens in der Region gibt, die sich auf Marx beruft und die sich mit postmodernen Begriffen und Beschreibungen nicht bestimmen lässt. Da sich das Sprechen über das Arendtsche Handeln zugleich auch als Handeln deuten lässt, hatten die Lesekurse auch einen Performance-Charakter, der sie als künstlerische Form anschließbar an existierende Kunstformen macht. Obwohl vielen Weißenfelsern zunächst nicht bekannt gewesen ist, dass heute viele Künstler partizipatorisch arbeiten, leuchtete ihnen doch die Form des Lesekurses mit den Visualisierungen in Schrift und Film als künstlerische Form ein. In der internationalen Kunstausstellung Hannah-Arendt-Denkraum (www.hannaharendt- denkraum.com) in Berlin richteten dann die Weißenfelser ihre Worte und Gedanken virtuell an die Menschen, die potentielle Durchreisende durch Weißenfels sind. Aus der Rede von Andreas Wegner zur Eröffnung der Ausstellung in der Brand-Sanierung Weißenfels, 2007:

»Gemeinsam gelesen wurde Hannah Arendts Buch Vita activa. Insgesamt haben ca. 90 Personen an den Lesekursen teilgenommen. Während der Lesungen wurden Verständnisfragen gestellt, d.h. es war ein diskursives Lesen, in dem es auch darum ging, das Gelesene zu verstehen und zu hinterfragen. Anschließend wurden einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer in dem zwischenzeitlich vom Leseraum zum Aufnahmestudio umfunktionierten Raum von Judith Siegmund interviewt, was in der Ausstellung auf den Monitoren zu verfolgen ist. Bevor es aber dazu kommen konnte, dass gemeinsam Hannah Arendt gelesen wurde, waren einige Vorbereitungen nötig. In Weißenfels wurden 10.000 Flyer verteilt. Über verschiedene Firmen und Verbände wurde Kontakt zu der Bevölkerung aufgenommen. Viele Gespräche wurden geführt, um das Interesse an den Lesekursen zu wecken. Dank dieser Bemühungen und dank der positiven und reichlichen Berichterstattung in der regionalen Presse konnte es gelingen, die Lesekurse erfolgreich durchzuführen. Vergleicht man diese Vorbereitungen für ein Kunstprojekt mit traditionelleren Formen der Bilderzeugung, so läuft es auf die wesentliche Frage hinaus: Was ist das Produkt?

Das Projekt ist eine Aufforderung und zugleich die Realisierung eines Modells, einer Form, wie aus Ohnmacht Macht werden könnte, zumindest die Macht der Selbstdefinition, die Restrukturierung der eigenen Sprache, indem anhand von politischer Theorie (und als solche verstand Hannah Arendt ihr Programm) die eigenen Situationen im kritischen Verhältnis zu dieser Theorie neu bestimmt werden können. Welche praktischen Konsequenzen zu ziehen sein werden, steht auf einem anderen Blatt.« 



 
Martin Saar
Bildpolitik
>Arbeitsschutz<



SCHÖNHEITEN

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