Die Idee eines Grundeinkommens hat viele Väter . Doch kaum jemand hat sie so vehement vertreten wie der französische Sozialphilosoph und Sartre-Schüler ANDRÉ GORZ (†) . Während die europäischen Wohlfahrstaaten mit Anpassungen ihrer Arbeitsmarktpolitik auf den Globalisierungsdruck reagierten, sah er bereits die Chancen zur Neubesinnung, die in diesem Stukturwandel lagen . So warb Gorz leidenschaftlich für eine gerechtere Verteilung von öffentlichen Gütern, den ungehinderten Zugang zu Wissenressourcen sowie eine selbstbestimmte Arbeitspraxis, die durch ein Existenzgeld abgesichert würde . Aus Anlass seines Freitods im September 2007 dokumentiert POLAR ein Gespräch, in dem sich der undogmatische Marxist einmal mehr als ein Anhänger kollektiver Wertschöpfung erweist. polar: In Ihrem Buch Arbeit zwischen Misere und Utopie betonen Sie, dass der »Exodus aus der Arbeitsgesellschaft« endlich gewagt werden muss. Liegt es an der angeblich »arbeitszentrierten deutschen Seelenverfasstheit«, dass die meisten gesellschaftlichen Institutionen und relevanten Akteure beharrlich - bis hin zum wachsenden Druck auf Arbeitslose - an der Erwerbsarbeit festhalten?
Gorz: Die Erwerbsarbeitszentriertheit ist in den gesellschaftlichen Institutionen strukturell angelegt. Der Sozialstaat kann ohne Umverteilung, ohne Transferleistungen nicht funktionieren. Die Menschen können ohne Arbeitsplatz nicht leben, weil ihr Recht auf Einkommen, auf Sozialversicherungen vom Besitz eines Arbeitsplatzes abhängt. Die Frage ist also: Warum findet die Umverteilung von oben nach unten trotz steigenden Wachstums und steigender Gewinne nicht mehr im nötigen Ausmaß statt? Warum werden die sozialen Rechte und das Recht auf Einkommen nicht von der geleisteten Arbeitsmenge oder gar dem Besitz eines Arbeitsplatzes abgekoppelt, da ja immer mehr Reichtum mit immer weniger Arbeit geschöpft wird? Die Antwort könnte meines Erachtens lauten: Weil der Neoliberalismus alle Macht dem Kapital übergeben hat. Die so genannte Informationsrevolution wurde von Anfang an in Gang gesetzt, um die Nationalstaaten zu zwingen, sich selbst zu entmachten und ihre Transferleistungen abzubauen. Die Einsparungen an Arbeitszeit und der Personalabbau wurden dazu genutzt, den Arbeitnehmern die Furcht vor der Arbeitslosigkeit einzuflößen, die Tarifverträge zu untergraben, Disziplin, ja Unterwürfigkeit in den Betrieben wieder herzustellen und gleichzeitig Arbeit als ein unverzichtbares menschliches Bedürfnis darzustellen. Niemand soll mehr fragen, welchen Zwecken denn eine Arbeit dient, was die Arbeitsbedingungen sind und wie hoch der Lohn ist. Arbeitgeber sollen als Wohltäter gelten und Arbeitslose als unnütze, unfähige Menschen, die selbst an ihrer Lage schuld sind und zum Arbeiten gezwungen werden sollen.
polar: Im deutschen Sprachgebrauch »geht« man gewöhnlich einer Arbeit »nach«. Damit wird implizit auch vermittelt, dass die jeweilige berufliche Tätigkeit der Richtungsanzeiger, der Taktgeber für die Lebensweise vieler Menschen ist. Wie erklären Sie diesen Menschen, dass es doch in ihrem Interesse läge, die Richtung zu ändern und aus der Arbeitsgesellschaft auszuscheren?
Gorz: Ich würde diese Frage umkehren und sagen: Die Arbeitsgesellschaft besteht gar nicht mehr, es gilt also nicht, aus ihr auszuscheren, sie zu verlassen, sondern uns der Tatsache bewusst zu werden, dass sie uns bereits verlassen hat, uns aber hindern will, daraus die Konsequenzen zu ziehen. In den letzten 20 Jahren hat eine fantastische Umverteilung stattgefunden. Mit ihrer Arbeit verdienen die Deutschen einen immer geringeren Anteil des gesellschaftlich geschöpften Reichtums, mit Vermögen und Finanzgeschäften einen immer größeren Anteil. Allein mit Geld kann man reich werden. Arbeit ist in einem solchen Ausmaß abgebaut, umgestaltet, flexibilisiert, unsicher geworden, dass die Arbeitenden in einer Risikogesellschaft leben, während die Vermögenden in einer Kasinogesellschaff zu leben glauben, in der man spielend mit Geld mehr Geld machen kann. Die Einsparung von Arbeit und Arbeitszeit wird sich künftig weiter beschleunigen. Als Ware, die man für fremdbestimmte Zwecke an Arbeitgeber verkauft, wird Arbeit gesellschaftlich immer weniger benötigt werden. Verschwinden wird Arbeit aber nie, vorausgesetzt, dass wir sie uns zu eigen machen und als unsere sowohl persönliche als auch gemeinsame Tätigkeit für gemeinsam bestimmte Zwecke ausüben.
polar: Sie fordern mit Vehemenz die »Wiederaneignung von Arbeit«. Was verstehen Sie darunter?
Gorz: Seit 25 Jahren ist eine Entwicklung im Gange, die allgemein als Übergang von der Arbeits- zu einer Wissens- und Informationsökonomie bezeichnet wird. Unmittelbare Arbeit spielt eine immer geringere, untergeordnetere Rolle, während Wissen - sowohl das in Computersoftware gespeicherte als auch das lebendige Wissen - zur entscheidenden, weitaus wichtigsten Produktivkraft wird. An Wissen lässt sich aber kein privates, exklusives Besitztum erwerben. Es kann beliebig und kostenlos vervielfältigt werden, es lässt sich, zum Unterschied von Sach- und Geldkapital, weitergeben, schenken, tauschen, teilen, ohne dadurch für seine Inhaber und Benutzer seinen Gebrauchswert zu verlieren - ganz im Gegenteil. Es ist in seinem Wesen ein Gemeingut, das in der Wissensökonomie als so genanntes »Wissenskapital« die Rolle des fixen Kapitals spielt und seine Mitbenutzer zu Mitbesitzern der Unternehmen machen müsste, in denen sie mitwirken. In der Wissensökonomie könnte Geldkapital am Ende für die unternehmerische Schöpfung von Gebrauchswerten so gut wie unnötig werden. Um seine Herrschaft aufrecht zu erhalten, muss das Kapital sich fortan bemühen sich Wissen einzuverleiben, es sich anzueignen, seine Inhalte und Anwendungen zu bestimmen. Und dies kann ihm nur gelingen, wenn es ihm gelingt, die menschlichen Subjekte selbst in ihrer Lernfähigkeit, ihrem Denken, ihrer Imagination, ihrer kommunikativen Aktivität zu bestimmen und zu beherrschen. Das geradezu totalitäre Vorhaben des Kapitals, sich das Subjekt hinsichtlich seiner Selbsterzeugungs- und Autonomiefähigkeit dienstbar zu machen und zu unterwerfen, und der Widerstand, den die Subjekte gegen diese Instrumentalisierung ihrer ganzen Existenz leisten, sind die neue, zugleich diffuse und radikale Form des Klassenkampfs. Er nimmt seine radikalsten Formen dort an, wo Wissen erzeugt, geteilt, gelehrt, bewertet oder vermarktet wird. Dort, wo es für das Kapital dadurch beherrschbar gemacht wird, dass man es zerstückelt, einengt, individualisiert und den Menschen mit ihrem Wissen auch Unwissen und die Begrenztheit ihrer Fähigkeiten vermittelt – also dort, wo ihre Wertvorstellungen, ihre Orientierungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit auf dem Spiel stehen: in der Kulturund Freizeitindustrie und im Bildungs- und Ausbildungswesen. Die studentische Forderung nach »Bildung statt Ausbildung« ist diesbezüglich bezeichnend, ebenso wie der weltweite Widerstand gegen patentiertes und genetisch modifiziertes Saatgut, gegen die Patentierung des menschlichen Genoms, oder gegen die patentierte Software – etwa von Microsoft –, die eine Art Gebühr für den Zugang zum Internet, also zu allgemein verfügbarem Wissen und Wissensaustausch erhebt. Der zentrale Konflikt findet einen geradezu paradigmatischen Ausdruck im Gegensatz zwischen der patentierten Software einerseits und andererseits der freien Software, die eine Art »anarcho-kommunistische Ökonomie des Gebens« aufbaut, in der jeder allen anderen sein Wissen zur freien Verfügung stellt und im Gegenzug über das Wissen aller anderen frei verfügt. Das von allen Teilnehmern stetig weiter entwickelte und gespeicherte Wissen wird als unverkäufliches und unkäufliches Gemeingut behandelt. Hier geschieht im transnationalen Maßstab, was vielleicht ca. 50.000 deutsche Selbsthilfegruppen im regionalen Maßstab betreiben: Erfahrungen, Erfindungen, Gebrauchswerte werden im kooperativen Austausch der Logik der kapitalistischen Ökonomie entzogen.
polar: Wiederaneignung von Arbeit bedeutet im Kern den Kampf um eine neue Zeitsouveränität. Traditionell ist das ein Thema der Gewerkschaften, die allerdings hierzulande immer mehr im Verdacht kurzsichtiger Interessenpolitik stehen. Wie müssten Gewerkschaften sich wandeln, um zu Agenten einer vorwärts weisenden Reformstrategie zu werden?
Gorz: Flexible Arbeitszeiten, diskontinuierliches Arbeiten sind bisher von den Arbeitgebern den Arbeitenden aufgezwungen worden. Diese Weise, die Arbeitszeiteinsparungen im Interesse des Kapitals allein durchzuführen und als verschärftes Unterwerfungsinstrument der Arbeiter zu nutzen, muss und kann umfunktioniert werden. Und das kann nur geschehen, wenn die Erlangung von Zeitsouveränität zu einem ausgesprochenen politischen – oder gewerkschaftspolitischen – Kampf erklärt wird: zu einem verbindlichen gesamtgesellschaftlichen Konzept. Das wurde in den Niederlanden auch so in einem gewissen Maße gemacht. Die freie Wahl der täglichen, wöchentlichen, monatlichen oder jährlichen Arbeitszeit wurde öffentlich zu einer allgemeinen – nicht einer individuellen – Forderung und schließlich zu einem allgemein verbindlichen Bürgerrecht. Arbeitgeber dürfen es niemandem verbieten, auf Teilzeitarbeit gehen zu wollen und niemand darf benachteiligt oder in seiner Karriere beeinträchtigt werden, weil er Teilzeitarbeit vorzieht. Dieses Bürgerrecht muss natürlich mit einem bedingungslosen Recht auf ein Mindesteinkommen und eine Grundrente, die von der im Leben der Einzelnen geleisteten Arbeitsmenge völlig unabhängig sind, verbunden sein. Ferner muss wachsende Zeitsouveränität und freigesetzte Zeit mit einer Politik verbunden sein, die durch kommunale Einrichtungen die Entwicklung aller möglichen kulturellen Aktivitäten und Selbsttätigkeiten fördert. Die Einzelnen müssen von Kindheit an mitgerissen und umworben werden von einer Fülle von Verbänden, Werkstätten, Klubs, Kooperativen, Vereinen usw., die sie für ihre Projekte und Aktivitäten zu gewinnen suchen. Je geringer die unmittelbare Arbeitszeit, umso wichtiger wird eine Bildungs- und Kulturarbeit, die sich die »freie Entfaltung der Individualitäten« (so Marx) zum gesellschaftlichen Ziel setzt. Die Vermassung und der narzisstische Rückzug ins Private lassen sich anders nicht vermeiden.
polar: Ihr favorisiertes Gesellschaftsmodell ist das einer »multiaktiven Alltagskultur«, in welcher der oder die Einzelne das Bedürfnis »zu werken, zu wirken und anerkannt zu werden« in verschiedensten Tätigkeitsfeldern ausleben soll. Dabei soll durch die Einführung von Existenzgeld die Bezahlung als Motivationsinstrument verschwinden zugunsten des »Strebens jedes Einzelnen nach Vortrefflichkeit«. Wie kann dieses Menschenbild vor Missbrauch geschützt werden?
Gorz: Ist die multi-aktive Kulturgesellschaft nicht genau das, was viele ansatzweise anstreben, wenn sie sich für Sachen einsetzen, die mit Ihrem Job nichts zu tun haben und die ihnen oft wichtiger sind als dieser Job? Ist das gemeinsame Streben eines oder einer jeden nach Vortrefflichkeit nicht das, was einen Judo-Club, einen Chor, ein Orchester usw. zusammenhält, gemäß der von allen geteilten Einsicht, dass die Vortrefflichkeit des Ganzen von der Vortrefflichkeit jedes seiner Mitglieder abhängt, und umgekehrt? Wenn alle von jedem erwarten, dass er oder sie ihre künstlerischen, sinnlichen, geistigen, kognitiven usw. Fähigkeiten ständig weiter entwickeln und ihnen dazu die Mittel, Chancen und menschliche Unterstützung bieten, dann steht das in totalem Gegensatz zur Massenkultur und zur Normalisierung der Lebens- und Denkweisen, ohne die es kein totalitäres System geben kann. Ich bin auch der Meinung, dass allein das bedingungslose Bürgerrecht auf ein Grundeinkommen die Menschen zukünftig der normalisierenden Kontrolle staatlicher und privater Bürokratien entziehen kann.
polar: Voraussetzung für ein erwerbsarbeitunabhängiges Existenzgeld ist die Umlenkung von Geldströmen, d.h. Umverteilung aus den hochproduktiven Sektoren der Wirtschaft in die »geringer produktiven« Tätigkeitsfelder. Was begründet Ihren Optimismus, dass angesichts von internationaler Kapitalverflechtung, Machtzuwachs bei Großunternehmen, demographisch wachsender Belastungen der Sozialkassen dies zukünftig besser gelingen könnte?
Gorz: An der Krise des Sozialstaats sind zunächst die Staaten selbst schuld. Einer nach dem anderen haben sie alle die Vermögensgewinne steuerlich entlastet, um ausländisches Finanzkapital anzuziehen. Die Vermögenseinkommen zahlen aber insgesamt immer weniger Steuern, die Arbeitseinkommen immer mehr. Eine gerechtere Umverteilung wird nur möglich, wenn die Mitgliedsstaaten der EU sich auf eine gemeinsame Sozial- und Fiskalpolitik einigen und eine Steuer auf transnationale Finanzgeschäfte einführen, die so genannte Tobin-Steuer. Ich bin aber auch der Meinung, dass sich ein bedingungsloses Grundeinkommen auf Dauer nicht durch Umverteilung finanzieren lässt. Die Schöpfung von Reichtum wird weiter immer weniger Arbeit benötigen, immer weniger Löhne ausschütten, immer weniger Zahlungsmittel in Umlauf setzen. Waren und Dienstleistungen, für deren Herstellung zum Schluss kaum jemand bezahlt wird, können letzten Endes auch keine Käufer mehr finden und keinen Gewinn einbringen. Der weitgehend arbeitsunabhängige Reichtum kann folglich nur durch arbeitsunabhängige Verteilung von Zahlungsmitteln der Bevölkerung zugänglich gemacht werden. Also nicht durch Umverteilung, sondern durch primäre Verteilung. In Frankreich arbeiten prominente Wirtschaftswissenschaftler an dieser Frage und erwägen die Einführung verschiedener Geldsorten, die die verschiedenen Funktionen, die Geld heute einnimmt, differenziert ausüben.
Die Fragen stellten Jan Engelmann und Michael Wiedemeyer.
Das Interview entstand aufgrund der Zurückgezogenheit Gorz’ in Form eines Briefwechsels und erschien ursprünglich im »Kursbuch Arbeit« (DVA 2000).