Mit der Arbeit steht es wie mit manch anderen Übeln und Lastern auch . Ohne sie geht gar nichts, mit ihnen aber auch nicht viel . Ein Vergleich faktischer Arbeit mit der Idee eines Lebens in Würde zeigt schnell, warum das so ist.Arbeit wird in unserer Gesellschaft verstanden als abhängige Lohnarbeit mit dem Zweck, den so genannten eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Das hat etwas Entwürdigendes an sich. Aber freiwillig oder erzwungenermaßen keine Arbeit zu haben, ist nicht weniger entwürdigend - und hierin steckt das Dilemma. Wer arbeitet, ordnet sich unter und knechtet, instrumentalisiert sich selbst, wird Teil des Systems, zum kleinen Rad in der großen Maschine. Wer arbeitet, verliert Integrität, Selbstachtung und Respekt, kurzum jede Würde. Wer nicht arbeitet, wird einsam und depressiv, nutzlos, zur Belastung und ganz schnell zum ›Sozialschmarotzer‹. Auch wer nicht arbeitet, verliert Integrität, Selbstachtung und Respekt, kurzum jede Würde. Arbeit hat etwas Würdeloses und Arbeitslosigkeit auch. Also was tun?
Ein Ausweg scheint darin zu bestehen, das Dilemma einfach wegzudenken, die Idee von Arbeit ganz abzuschaffen und die - sagen wir - Ostberliner Republik der reinen Tätigkeit und kreativen Freiheit auszurufen. Doch nichts ist so viel einfacher gesagt als getan, und damit wäre dieser Vorschlag auch schon hinfällig. Stattdessen lohnt es sich, noch einmal einen Schritt zurückzutreten und danach zu fragen, warum es eigentlich entwürdigt, arbeiten zu müssen, und warum es entwürdigt, nicht arbeiten zu dürfen. Zunächst zum scheinbar eindeutigeren Fall, der Arbeitslosigkeit: Warum und wie verletzt Arbeitslosigkeit die Würde eines Menschen?
Arbeitslosigkeit und Entwürdigung hängen nicht unbedingt zusammen: Könige haben nie wirklich gearbeitet. Es muss also bestimmte entwürdigende Umstände geben, die den meisten Arbeitslosen unserer Zeit zu schaffen machen. Wer heute arbeitet, tut dies zumeist, um sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Wer nicht arbeitet, ist auf private oder staatliche Transferleistungen angewiesen. Hierin liegt ein wichtiger Aspekt der Entwürdigung: Insofern Arbeitslose nicht die Möglichkeit haben, für sich selbst zu sorgen, wird ihre Selbstachtung verletzt. Das liegt nicht an der Fürsorge allein, denn für eine schwerkranke Person muss es nicht entwürdigend sein, versorgt zu werden. Das Problem entsteht erst dadurch, dass viele Arbeitslose nicht für sich sorgen können, obwohl sie es eigentlich könnten. Es liegt nicht an ihnen, dass sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen; ihre Einschätzung, dass sie in der Lage wären, zu arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, trifft zu. Strukturelle Faktoren machen es ihnen unmöglich, durch Arbeit auf sich selbst zu achten. Die königliche Erwerbsarbeitslosigkeit hingegen ist freiwillig. Selbstbild und Selbstachtung könnten besser nicht übereinstimmen, wie verquer beide auch sein mögen.
Arbeitslosigkeit ist aber noch aus einem zweiten Grund entwürdigend, der mit der sozialen Dimension von Würde zu tun hat und schon durch den Mangel markiert wird, der im Wort Arbeitslosigkeit zum Ausdruck kommt. Wer nicht arbeitet, hat Schwierigkeiten, auf das allgegenwärtige Was machen Sie denn so? eine unverfängliche Antwort zu geben. Denn hinter dieser so unschuldig wirkenden Frage verbergen sich in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft noch zwei andere: Welchen Sinn hat Ihr Leben? Und: Was tragen Sie zum Gemeinwohl bei? Abstrakt lassen sich natürlich beide Fragen zurückweisen: Was für ein Sinn und welches Gemeinwohl können hier schon gemeint sein? Doch praktisch geht es um gesellschaftliche Anerkennung, darum, als grundsätzlich Gleiche ein würdevolles Leben führen zu können. In unserer Gesellschaft bedarf es dazu einer ganzen Menge sozialen und kulturellen Kapitals aus anderen Quellen, wenn man nicht zumindest auf Sinn und Gemeinnutzen der eigenen Lebensweise als Arbeitende verweisen kann. Das aber greift die Würde der Betroffenen und nicht nur ihre Ehre an, weil es nicht um einen etablierten sozialen Status als Hochschullehrerin oder Kunstschaffende geht, sondern darum, überhaupt als respektables Mitglied der Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Wir sind die Roboter
Warum dann nicht allen Menschen irgendeine Arbeit geben? Das würde das Problem nicht aus der Welt schaffen. Denn erstens ist es einfach pervers, auch nur die soziale Würde eines Menschen an seine Arbeit und ganz besonders an seine marktförmig verwertbare Arbeit zu binden. Wie viele Eigenschaften, Fähigkeiten und Eigenheiten bleiben da völlig unberücksichtigt? Zweitens geht die Erwerbsarbeit bekanntlich langsam, aber sicher aus – schon jetzt gibt es weltweit mehr als eine Milliarde Arbeitslose, Tendenz steigend. Drittens reicht es sicher nicht, einfach irgendeine Arbeit anzubieten, denn auch Arbeit kann entwürdigen. Wer einen Job ohne Gestaltungsspielraum hat, in dem die Aufgaben in keiner Weise selbst bestimmt und eigenverantwortlich erfüllt werden können, arbeitet nicht als Mensch, sondern als besonders beweglicher und gut programmierbarer Roboter. Das ist entwürdigend, weil in solchen Arbeitszusammenhängen die Selbstachtung als Mensch, als vernünftiges, moralisches und empfindsames Wesen kaum aufrecht zu erhalten ist. Auch hier ist die Entwürdigung darin begründet, dass die Arbeiterin nicht selbstständig und eigenverantwortlich handeln kann, obwohl sie es ja könnte. Denn das wäre nicht effizient und vielleicht sogar gefährlich, zumindest für die hierarchischen Unternehmensstrukturen. Lean production und andere Modelle der Mitarbeiteraktivierung schaffen hier keine Abhilfe, denn ihnen geht es nur darum, dass die Arbeitenden genau wissen, was von ihnen verlangt wird, ohne dass es ihnen extra gesagt werden muss.
Jemanden bloß als Humanressource aufzufassen und nach dem Beitrag zu den Quartalszahlen zu beurteilen, heißt diese Person zu instrumentalisieren. Denn dann geht es nicht darum, diesem besonderen Menschen mit seinen Fähigkeiten und Schwächen, Bedürfnissen und Beiträgen keinen Gestaltungsraum im sozialen Gefüge zu geben – vielmehr wird er eine beliebig austauschbare Ressource, ein mehr oder weniger nützliches Ding. Dies wirkt sich auch auf das Verhältnis der Arbeitenden untereinander aus, die ihr Miteinander in maximal rationalisierten und systematisierten Arbeitswelten als verdinglichte Austauschbeziehung wahrnehmen. Jede Menschlichkeit und die dazu gehörige Würde werden zuhause gelassen: Als Mensch würde ich ja ganz anders handeln, aber als Managerin… Wenn ich als Mediziner könnte, wie ich wollte! Aber als niedergelassener Arzt… Ich verstehe ja ihren Ärger, aber als Kundenbetreuer… Nahezu völlig regel- und moralbefreite Marktmechanismen und Unternehmensstrukturen, aber auch die Folgen einer allgegenwärtigen Bürokratie organisieren die meiste Arbeit auf diese für alle Beteiligten erniedrigende Weise.
Würde für alle
Angesichts dieses Szenarios erscheint eine Gesellschaft, in der weder Arbeiten noch Nichtarbeiten in irgendeiner Weise entwürdigen, ein frommer Wunsch zu bleiben. Die Würde des Menschen ist möglicherweise nicht zerstörbar, aber offensichtlich äußerst fragil und leicht zu verletzen. Tatsächlich spricht dies jedoch nicht gegen, sondern für Bemühungen, beiden Lebensweisen, mit und ohne (Erwerbs-) Arbeit, zu ihrer Würde zu verhelfen: Bedingungsloses Grundeinkommen, Ausweitung des Ehrenamts, Demokratisierung von Betrieben, Mindestlohn, Anerkennungserzählungen aktiver Arbeitsloser und Halbierung der maximalen Arbeitszeit gehen in diese Richtung. Bei all dem geht es nicht einfach nur darum, irgendwelche Systeme zu stützen oder stürzen – es geht darum, einzelne Gesellschaften und globale Strukturen so zu gestalten, dass sie den Menschen, und zwar den arbeitenden wie den nichtarbeitenden, ein Leben in Würde ermöglichen. Dazu gehört, neben dem Zugang zu Grundgütern, eben auch die Möglichkeit, auf sich selbst zu achten, und die tatsächliche Möglichkeit, als Arbeitende oder Nichtarbeitende in menschlicher Würde, als selbstbestimmtes, empfindsames, bedürftiges, kreatives und vor allem soziales Wesen zu leben.