Nur nachts kommen sie ins Zentrum, um den Müll der Stadtbewohner zu durchforsten. Tagsüber leben sie in Elendsvierteln, eigens eingerichtete Sonderzüge bringen sie diskret hin und zurück. Seit der argentinischen Wirtschaftskrise von 2001 wächst die Zahl der aus dem System permanent Ausgeschlossenen. Die Müllsammler gehören zu ihnen, »nicht mehr verwertbare« Menschen, die sich zum Überleben neue Arbeiten erfinden.Wenn es im Zentrum von Buenos Aires dunkel wird, die Läden geschlossen sind und die Geschäftsleute nach Hause fahren, kommt die Stunde der Schattenmenschen. Sie waren schon vor der Dämmerung da, drückten sich in Ecken und Seitenstraßen, unbemerkt vom geschäftigen Tagesbetrieb. Erst in der Dunkelheit schwärmen sie aus, schweigsam und eilig durchkämmen sie in kleinen Gruppen die Stadt. Der Müllabfuhr immer einen Schritt voraus, durchwühlen die Müllsammler die Plastiksäcke am Straßenrand nach verwertbaren Materialien. In ihren selbst gebastelten Handkarren landen Plastikflaschen, Tageszeitungen und viele Pappkartons, was ihnen die Bezeichnung »Cartoneros« eingebracht hat: Kartonsammler.
Wie viele es gibt, die im 13-Millionen-Großraum von Buenos Aires den Müll der Wohlstandsgesellschaft trennen und an Recyclingfirmen weiter verkaufen, weiß niemand so genau. Offizielle Statistiken schätzen, dass zwischen 12.000 und 20.000 Cartoneros durch die Straßen ziehen und täglich etwa 600 Kilo Abfall sammeln. Nichtregierungsorganisationen sprechen sogar von bis zu 50 000 Personen. Die Cartoneros sind die Unsichtbaren der argentinischen Gesellschaft. Sie wohnen in den Elendsvierteln am Rande der Stadt, in Häusern, die es offiziell gar nicht gibt. Sie treten weder beim Finanzamt noch bei der Meldestelle in Erscheinung, ihre Kinder gehen oft nicht zur Schule. Sie sind Schatten, die im Verborgenen geschätzte 100 Millionen Euro Umsatz im Jahr erwirtschaften. Doch das große Geschäft mit dem Müll machen andere, Aufkäufer, Großhändler, Recylingkonzerne. Für die Sammler reicht es gerade so zum Überleben.
Vom »Cartonero« zum »Plastiquero«
Mirta Belizan kämpft gerade darum, sichtbar zu werden. Fast zehn Jahre ist die 60-jährige jede Nacht mit ihrem Handwagen durchs Zentrum gelaufen. »Für ein Kilo Zeitungen gibt es beim Großhändler 15 Centavos, für Karton 25, für Plastikverpackungen 80«, erzählt sie. Nach einer fünfstündigen Runde hatte Belizan zwischen zehn und fünfzehn Pesos zusammen, etwa vier Euro. An guten Tagen. »Manchmal drückte der Großhändler den Preis, weil ihm das Material zu schmutzig war. Manchmal war ich auch krank und schaffte nicht so viel«, berichtet die kleine, drahtige Frau. Als bei ihr eine Herzkrankheit diagnostiziert wurde, war Schluss mit dem Müllsammeln. Ihre beiden Söhne und die jüngste ihrer fünf Töchter arbeiteten für sie mit. Doch auch sie haben Familien zu versorgen, es reichte nicht für alle.
Um die Einnahmen zu erhöhen, schloss sich Mirta Belizan 2004 mit anderen Cartoneros aus ihrem Viertel zusammen. Sie gründeten die Kooperative »Tren Blanco«, weißer Zug. Zusammen investierten die Müllsammler, die bis dahin als Einzelgänger gearbeitet hatten, in ihre Zukunft. Sie mieteten eine Lagerhalle an, und kauften mit einem Kleinkredit Maschinen zum Säubern, Pressen und Häckseln von Plastik. Plastik bringt im Recyclinggeschäft ein Vielfaches mehr ein als Zeitungspapier oder Kartonage. »Unser Ziel war es, von ›Cartoneros‹ zu »Plastiqueros« aufzusteigen«, erklärt Belizan. »Nicht länger nur überleben, sondern auch mal Geschäft machen«. In der von »Tren Blanco« angemieteten Lagerhalle im Vorort San Martín stapelt sich Müll bis zur Decke. Vorsortierte und gereinigte Türme aus transparenten Folien, farbigem PET, Zeitungen und Karton. »Eigentlich sollte das Zeug längst beim Großhändler sein, aber der Lastwagen ist kaputt«, erklärt Daniel Paret das Chaos. Paret ist 30, zweifacher Vater und Belizans Sohn. Er stieg mit ein in die Kooperative, weil es seine einzige Chance war, aus der Armut auszubrechen. »Wir leben seit Generationen so«, sagt Paret und lässt sich neben seiner Mutter auf einem wackligen Campingstuhl nieder. Schon als kleiner Junge fuhr er auf dem Karren mit, sobald er alt genug war, zog er seinen eigenen. Die Grundschule beendete er nicht, genau wie seine Mutter. Doch seine Söhne, Belizans Neffen, sollen es einmal besser haben. »Das einzige, was wir gelernt haben, ist das Geschäft mit dem Abfall«, sagt Belizan. Es ist keine Klage, sondern eine Feststellung.
Die Cartoneros kauften eine Presse, eine Schrottmaschine und einen gebrauchten Lastwagen. Damit wurde die Kooperative selbst zur Zwischenhändlerin. An einer vollen LKW-Ladung gesäuberten und komprimierten Plastikschrotts verdienen nicht nur die Mitarbeiter von »Tren Blanco«, sondern auch viele Einzelsammler. Das Geld für den Lastwagen stammte aus einem Mikrokredit der örtlichen Universität. Zuerst übertraf das Geschäft alle Erwartungen: Alle zehn Tage fuhren Belizan, Paret und ihre Kollegen eine LKW-Ladung zum Großhändler, etwa 300 Cartoneros belieferten regelmäßig die Kooperative, alle verdienten besser als vorher. Doch dann ging erst die Müllpresse kaputt und wenig später der Lastwagen.
»Wir haben uns übers Ohr hauen lassen, wir verstehen ja nicht das geringste von Maschinen«, sagt Paret bitter. Dem schlaksigen Mann steigen die Tränen in die Augen. Seit drei Wochen sitzt er auf einem Berg Müll, drei Wochen, in denen niemand verdient. »Jetzt ist alles wieder wie vorher«, sagt er. »Wir können den Müll nicht wegbringen, wir verlieren unsere Kunden und Geld für Ersatzteile haben wir nicht.«
Respekt im Villenviertel
Mirta Belizan hat hart darum gekämpft, aus der Schattenexistenz zwischen Slum und Müll heraus zu treten. Durch die Vermittlung einer Nichtregierungsorganisation besuchte sie an der Uni Abendkurse in EDV und Verwaltung. Zusammen mit anderen Müttern aus ihrem Viertel gründete sie vor kurzem ein Mütterzentrum, das von der Deutschen Botschaft unterstützt wird. Die staatliche Armenunterstützung von 150 Pesos, umgerechnet 50 Euro monatlich, lehnt Belizan ab. »Ich kaufe die Milch für meine Enkel lieber selbst«, sagt die energische Frau mit der sorgfältig gesträhnten Kurzhaarfrisur. »Ich schäme mich nicht dafür, in einem Elendsviertel zu wohnen«, betont sie. »Aber ich schäme mich dafür, dass die argentinische Gesellschaft zulässt, dass Menschen so leben müssen.«
Mirta Belizan lebt in der Villa von José León Suárez, die sich eine knappe Zugstunde nördlich des Stadtzentrums entlang eines Flussarms ausbreitet. »Villa« bedeutet »Siedlung« und ist ein Euphemismus. Es gibt keine Straßennamen wie in einer richtigen Siedlung, noch nicht einmal Straßen oder eine Kanalisation. Ein staubiger Trampelpfad am Ufer des stinkenden Flüsschens führt an zusammengenagelten Hütten aus Wellblech, Holzlatten und Plastikplanen vorbei. Im Großraum von Buenos Aires leben geschätzte 1,1 Millionen Menschen in solchen Villas. Mirta Belizan läuft mit festem Schritt den Trampelpfad entlang, grüßt nach allen Seiten, bleibt immer wieder stehen, um in beiläufigem Tonfall nach den Kindern zu fragen oder nach der Gesundheit. Jeder hier kennt sie, fast ihr ganzes Leben hat sie in José León Suárez verbracht, durch ihre Mitarbeit in der Kooperative und dem neuen Mütterzentrum genießt sie Respekt.
Belizan wohnt im besseren Teil des Viertels, in einem kleinen Haus mit Mauern, Strom und fließend Wasser. Der Strom stammt, wie überall in der Villa, aus angezapften Starkstromleitungen, im Hof stapelt sich Müll für die Kooperative. Elf Kinder hat sie, das Jüngste, der brüllende Säugling, ist erst 17 Tage alt. Der Gemüseladen reicht längst nicht zum Auskommen, alle Kinder die noch im Haus leben und arbeiten können, müssen zum Lebensunterhalt beitragen: In die Stadt fahren, Kartons sammeln. So lange die Kooperative der Großmutter nicht funktioniert, müssen auch die Kleinen wieder ran, damit alle essen können. Es ist kurz vor 17 Uhr, die Nachbarin Norma Flores klopft an das Gittertor des Gemüseladens, um alle abzuholen, die im Zug mitfahren. Norma Flores, genannt »Nony«, ist Zugdeligierte, sie trägt am Bahnhof jeden Mitreisenden in eine Liste ein, die sie anschließend dem Zugführer übergibt. Der »Tren Blanco«, der weiße Zug, ist ein Sonderzug für die Unsichtbaren, er bringt die Cartoneros jeden Tag ins Zentrum und mitsamt ihrem Müll wieder zurück. Die Regierung richtete diese weiß oder braun angemalten Züge vor fünf Jahren ein, um das Zusammenbrechen des öffentlichen Nahverkehrs zu verhindern. Damals, kurz nach der argentinischen Wirtschaftskrise von 2001, als so viele wie nie zuvor vom Müllsammeln lebten, verstopften Tausende Cartoneros die normalen Vorortzüge mit ihren Handkarren.
Disziplin und Vorhandensein
Norma Flores und ihre Kollegin Gabina Argañaraz passen auf, dass alle rechtzeitig mitkommen und dass alle Karren ordnungsgemäß verstaut sind, bevor die Türen schließen und der Zug um 17.30 Uhr den Bahnhof von José León Suárez verlässt. Die beiden Frauen nehmen ihre Arbeit als »Delegierte« ernst, obwohl sie nicht dafür bezahlt werden. Akribisch führen sie jeden einzelnen der knapp 600 Passagiere samt Registrierungsnummer und Sammelgebiet in ihrer Liste. Verlangt wird das von offizieller Seite nicht, die Bahnhofspolizei interessiert nur, ob alle bezahlt haben, eine genaue Inspektion der Wagen findet nur selten statt. Flores und Argañaraz tun diese ehrenamtliche Arbeit, weil Kontrolle und Disziplin allen Reisenden das Gefühl gibt, überhaupt vorhanden zu sein. Denn auch die eifrige Bundespolizei filzt die Tren Blancos nur sehr selten nach Drogen oder geflüchteten Kriminellen. Es ist, als ob der Staat in all seinen Facetten beschlossen hätte, die Züge der Cartoneros zu übersehen, weil ihn jeder einzelne Waggon an sein Versagen erinnert: schulpflichtige Kinder, schwangere Frauen, alte Männer, die davon leben, nachts den Müll der anderen zu durchwühlen. Ein beunruhigender Anblick für eine Gesellschaft, die gerne ihre europäischen Wurzeln betont und nicht zur Dritten Welt Lateinamerikas gehören will.
Es ist kalt im Waggon, der Fahrtwind pfeift durch die unverglasten, aber vergitterten Fenster. Die Gitter, erzählt Flores, brachte man an, nachdem ein Junge aus dem fahrenden Zug gefallen war. »Ein bisschen Sicherheit, immerhin«, sagt Flores und starrt durch den durchgerosteten Boden auf die Schienen. »Wir reisen jetzt zwar wie die Tiere, aber sterben müssen wir nicht«. In Villa Ballester wird es eng, viele neue Passagiere steigen zu. Die Zugdelegierten haben alle Hände voll zu tun, weisen Plätze zu, schlichten Streit. Im Waggon kreisen mittlerweile Flaschen und Joints, vereinzelt riecht es auch nach Klebstoff. Die beiden Frauen versuchen den Drogenkonsum gar nicht erst einzudämmen. »Gehört zur Armut«, zuckt Flores mit den Schultern und wirft ein paar grölenden Teenagern einen strengen Blick zu. Nach einer Stunde, als der Tren Blanco im wohlhabenden Viertel Belgrano hält, hat sich der Zug schon etwas geleert und auch Flores wird bald am Ziel sein. Sie wird zusammen mit ein paar anderen ihren Karren aus dem Zug schieben. Hinter den Bahngleisen werden sie sich aufteilen, Norma Flores wird alleine weitergehen, in eine dunkle Seitenstraße einbiegen und den Blick gen Boden senken. Für fünf Stunden wird sie durch Buenos Aires streifen, still, behende und für die meisten unsichtbar. Erst am Bahnsteig wird sie wieder sichtbar werden, als Delegierte des Tren Blanco, der die nächtlichen Müllsammler zurück nach José León Suárez bringt.
Mit dem Wahlsieg des konservativen Unternehmers Mauricio Macri sind harte Zeiten für die Cartoneros angebrochen. Seit dem 10. Dezember ist Macri Bürgermeister von Buenos Aires. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, den Betrieb des Tren Blanco einzustellen. Hunderte von Familien, die in den Vororten vom Müllsammeln leben, stehen nun ohne Einkommen da. Bereits im Wahlkampf hatte Macri erklärt, die Innenstadt von Cartoneros säubern zu wollen. Die zahlreichen Straßenproteste von betroffenen Müllsammlern blieben bisher wirkungslos.