Im Ranking angesagter Metropolen rangiert Berlin derzeit ganz oben . Berlin ist arm, aber sexy. Die Stadt hat das Image einer sub-kulturellen Kulturmetropole. Der Beitrag der Kreativwirtschaft zum städtischen Wirtschaftsprodukt ist inzwischen höher als der des industriellen Sektors. Jeder zehnte Beschäftigte der Stadt sei in der Kreativwirtschaft beschäftigt, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Ob diese Zahl so zu erklären ist, dass Berlin seit der deutsch-deutschen Vereinigung die Hälfte seiner Industriearbeitsplätze verloren hat, ob die Kreativwirtschaft primär zu einem wirtschaftlichen Standortfaktor wird, weil sich die Verhältnisse verschoben haben oder ob die Kreativwirtschaft absolut wächst, ist empirisch noch nicht geklärt. Deshalb lässt sich auch nicht präzise bestimmen, zu welchem Anteil Berlins Kreative an der aktuellen Prosperitätsphase partizipieren. Sicher ist jedoch, dass der Boom der Kreativwirtschaft mit einem Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung einhergeht. Dem Hype um Berlins Kreativwirtschaft ist ein Prekarisierungs-Schub inhärent, der gänzlich unsexy auf die voranschreitende Ent-Sicherung von sozialen Lagen in der Mitte der Gesellschaft hinweist.
Die Berliner Kreativwirtschaft scheint, wie viele Kultur- und Glamourmärkte, einer Winner-takes-all-Logik zu folgen. So konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf wenige, prestigeträchtige Superstars. Dadurch kommt es zu einer Monopolisierung des Reputationsgewinns, ohne dass die Wettbewerber notwendig weniger originell oder qualitativ schlechter, kurz weniger »kreativ« sind. Charakteristisch für eine solche Superstar-Logik ist, dass sich die messbaren Leistungen der Akteure, wenn überhaupt, nur graduell unterscheiden. Gestützt wird dies von aufmerksamkeitsökonomischen Routinen des Publikums.
Ein gutes Beispiel für die Superstar-Logik ist das »9to5-Festival Camp« der »Digitalen Bohème« vom August 2007. Das stylische »Radialsystem« in Berlin-Friedrichshain verkörperte mit seiner Mischung aus kühlem Design und loungehaftem Ambiente perfekt den Anspruch des »Wir nennen es Arbeit«-Treffens. Als Begegnungsstätte für mehrere Hundert Besucher bot das Festival den Rahmen für »3 Tage und Nächte leben und arbeiten«: tagsüber eine Art Tagung, nachts Party. Indes lag der abendliche Eintrittspreis doppelt so hoch wie in den gängigen Clubs. Das 9to5-Festival trug folglich seinen Teil zur Verstärkung der sozialen Gegensätze zwischen den »Superstars« der Szene und der kritischen Masse bei. Als Selbstporträt, ja als »Manifest« dient der selbst ernannten »Digitalen Bohème« das Buch mit dem Titel Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème. Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Ihr oberstes Gebot ist, wie die Autoren Friebe und Lobo schreiben, die Ablehnung des »Systems Festanstellung«, weil es keinerlei Sicherheit mehr biete und der Arbeitnehmerstatus die persönliche Freiheit beschneide. So werden abhängige Arbeitsverhältnisse einseitig als Unterdrückungsverhältnisse beschrieben; vielsagend ist auch, dass sie tariflich geschützte Erwerbsarbeit als »Luxus« deklarieren – und mit dieser Art Zynismus die Verhältnisse in der Kreativwirtschaft realistisch beschreiben. Zu den versteckten Kosten dieses Luxus gehöre nicht nur eine ökonomische Abhängigkeit, sondern auch eine »mentale«. Denn die führe direkt ins »Reich des Bullshit« und zur Abschaltung des »eigenen, kritischen Verstandes«.
»Freiheit, die ich meine« oder: Der Markt als Integrationsmaschine?
»Aus der Logik des Bullshit«, d.h. aus der Festanstellung auszusteigen, sei die einzige Methode, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Bei dieser wohltemperierten Künstlerkritik geht es um die Gleichung, dass individuelle Freiheit die Freiheit des Marktindividuums sei. Als »Digitale Bohème« wird somit eine sozial voraussetzungsvolle Kombination aus cleverem Marktgespür und einer Art milieuverankerter, sozialer Schwerelosigkeit konzipiert, die allerdings auf sozial mächtigen Ressourcen aufbaut. Doch verkünden die Autoren nicht einfach das Motto »Wir arbeiten gerne!«. Als selbst erklärte »linke Neoliberale « wissen sie, was für sich und andere gut ist. So identifizieren sie erstens Probleme (das System Festanstellung in seiner gegenwärtigen Form), definieren zweitens Aufgaben (den Schritt aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit hinein in ein intelligentes Leben), bieten drittens ein Lösungsmodell an (ein Leben als »Digitale Bohème«), um viertens zu zeigen, welcher Preis winkt: »We make Money not Art«.
Allerdings ist auch die »Digitale Bohème«, wie die meisten Kreativen, herausgelöst aus der solidarisch organisierten, gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Ihr Leben gerinnt zu eigenverantwortlichen Teilhabeprojekten. Dieser Zwänge gewahr, formulieren sie als Generalanforderung ihres »Work in Projects«, »ein gewisses Maß an Zukunftsangst und Unsicherheit auszuhalten«. Im Lichte dieser Erkenntnis proklamieren sie aber keinen Homo Oeconomicus. Gegen den industriegesellschaftlichen Staatspaternalismus und eine bloße Marktgesellschaft wird für eine Art »Ferienlager für Erwachsene« plädiert: also »Gemeinschaft« statt »Gesellschaft«. Auf der Grundlage eines derart privatisierten Rückzugs ins Milieu schafft es die »Digitale Bohème« vermeintlich, ohne die Gesellschaft für ihr lebenseroberndes »Ich« bzw. für ihr vergemeinschaftendes »Wir« auszukommen.
Allerdings ist der proklamierte Geist so neu nicht, restauriert er mit seinem kommunitaristischen Anstrich doch eine Weltanschauung, wie sie mit der New Economy verbunden war. Als wichtiger Impuls fungiert dabei insbesondere Richard Floridas Entwurf einer »kreativen Klasse« sowie David Brooks Buch über die neue Oberschicht, Bobos in Paradise. Auch ihnen geht es um eine neue Elite in Zeiten wirtschaftlichen Umbruchs. Die Vorreiter eines neuen Leistungsethos würden laut Brooks das Leben der genussorientierten Bohemiens mit dem der verwertungsorientierten Bourgeois verbinden und so nicht nur zu einem Wirtschaftsboom verhelfen, sondern auch zu einer neuen wirtschaftsorientierten Lebenskultur. Als Grenzgänger zwischen Bohemien und Bourgeois liegt das entscheidende Moment des Subjektentwurfs der »Digitalen Bohème« in der positiven Konnotation des »Selbst-Unternehmerischen«: der wechselseitigen Verstärkung des Strebens nach hedonistischer Selbstverwirklichung und wirtschaftlichem Erfolg.
Argumentation wie Diktion legen neben der wackligen empirischen Grundlage eine ideologische Verkleisterung von Unsicherheiten sowie ein elitär strukturiertes Gesellschaftsverständnis nahe. Der affirmative Bezug auf den »kreativen Entrepreneur« stilisiert seine unternehmerischen ›Tugenden‹ und seine Bedeutung für die volkswirtschaftliche Entwicklung. Gar nicht im Fokus steht dabei, dass der mantraartige Ruf nach Kreativität auch auf die Innovationszwänge des Kapitalismus antwortet. Auf diese Weise wird ausgeblendet, dass unternehmerisches Handeln immer auch zur Ausgestaltung und Bestimmung eines Herrschaftsprozesses beiträgt, in dessen Zuge prekäre Arbeits- und Lebenswelten als unternehmerisch und somit als fortschrittlich annonciert werden. Die Figur des Selbstunternehmers trägt zur Legitimierung des neuen Geistes des Kapitalismus bei, indem dieser sich und andere von seinen Vorteilen zu überzeugen sucht und sich normativ-subjektiv auf der Gewinnerseite aktueller Umbrüche verortet.
Ein sozialer Schwebezustand
Das Spannungsfeld, in dem sich die Akteure bewegen, lässt sich gleichwohl als Schwebezustand zwischen einerseits dem Zwang zum erfolgreichen und innovativen Selbstunternehmer und andererseits dem meist prekären Zustand von Alleindienstleistern der Kultur- und Kreativwirtschaft beschreiben. Als Superstars der Szene setzen die Akteure ihre kulturellen Ressourcen allerdings erfindungsreich ein, um die Prekarisierung nicht in individuellen Klassenabstieg münden zu lassen, sondern aus dem Umbruch Kapital zu schlagen. So konturieren sie klassenmilieuspezifische Ungewissheitszonen und praktizieren auf Diskursebene eine Verschleierung von Herrschaftsprozessen. Die Superstars in Gestalt der »Digitalen Bohème« zeigen uns, wie eine kreative Kultur der Handlungsmacht in Zeiten der Unsicherheit aussieht und aus welchen Quellen sie schöpfen kann – zu klären bleibt dann noch immer, aus welchen Quellen die kritische Masse und das heißt die Mehrheit der Kreativen schöpft.