... schrieb T. in der ersten seiner wehmütigen Mails aus Wien. Er hatte Berlin verlassen und war in die Stadt seiner Kindheit zurückgekehrt. Mehr noch als Berlin hatte er jedoch den Lesesaal verlassen. Den Lesesaal der Stabi, genauer gesagt der Stabi West, dem Haus I der Staatsbibliothek zu Berlin am Potsdamer Platz. Und die Stabi ist tatsächlich ein paradiesisches Großraumbüro. Viel Licht, tropische Pflanzen, große Architektur. Refugium der Privatgelehrten. Oase des wissenschaftlichen Nachwuchses. War man ein paar Jahre regelmäßig da, wird man an der Einlasskontrolle manchmal mit Namen begrüßt. Die Garderobenfrau macht Komplimente. Und der nette Herr von Platz 45 strahlt, wenn man kommt. Fragt flüsternd, wie es denn B. gehe, seiner Sitznachbarin? Sie sei so lange nicht mehr dagewesen. Ob sie ihr Manuskript jetzt beim Verlag habe? Normalerweise aber herrscht im Lesesaal Stille. Hunderte brüten über Vorträgen, Diplomarbeiten oder Buch-Exposés. Modische Juristinnen lernen fürs Staatsexamen. Und wer eine Pause braucht, geht in die Cafeteria. Die Stabi-Cafeteria ist ein eigentümlicher Ort. Das Essen ist schlecht. Tische und Stühle sehen aus wie im Caféhaus. »Man sollte ein Langzeitprojekt machen, bei dem Mikrophone über den Tischen hängen und Gespräche aufnehmen. Jahrzehnte später könnte man sich dann Zufallsaufnahmen aus mehreren Dekaden anhören. Meint Ihr, dafür gäbe es Gelder aus Kunstfördertöpfen?« fragte W. letztens bei Kaffee und Donut. W. ist Nutzer seit den frühen 80er Jahren und weiß aus teilnehmender Beobachtung, dass sich die Konversation in der Cafete im Laufe der Zeit schleichend entpolitisiert hat. Für einen Zeitgeist-Seismographen hält er sie trotzdem, oder vielleicht grade deshalb. Und tatsächlich: Wer sich für die Bedingungen des akademischen Alltags interessiert, muss hier bloß ein paar Stunden sitzen und lauschen.
»Sagt mal, unterrichtet Ihr eigentlich jedes Semester?« wollte zum Beispiel F. letztens wissen. F. ist Soziologin, promoviert auf Stipendium und hat, wie viele in der Stabi, geregelte Arbeitstage: Jeden Mittag um eins zieht ihre Lunch-Gruppe in eine Kantine am Potsdamer Platz, jeden Nachmittag um vier trifft F. dieselbe Clique zum Kaffee. Außer dienstags, wenn sie unterrichtet. Manchmal mit unbesoldetem, manchmal mit besoldetem Lehrauftrag. Etwa 900 Euro bekommt sie dann im Semester, 60 pro Sitzung. Das ist zwar Berliner Höchstsatz, aber alle Vorbereitungen, die Betreuung der Hausarbeiten und die Korrekturen eingerechnet trotzdem unter jedem gewerkschaftlichen Mindestlohnvorschlag. »Jedes zweite«, meinte A., der Professor werden will und die Lehrerfahrung braucht. Dr. N. warf ein, sie habe damals auf ihrer halben Promotionsstelle auch kaum mehr verdient als die Stipendiatinnen, dafür aber viel mehr arbeiten müssen. Und ob die anderen schon von der jüngsten Runde im universitären Lohndumping gehört haben, den halben Lecturer-Stellen? Für plus minus 1.000 Euro netto im Monat vier Kurse, d.h. eine professorale Lehrverpflichtung? »Stimmt, K. macht das grade«, wusste F. K. ist Anfang vierzig, habilitiert, ernährt Mann und zwei Kinder und hofft, dass es langfristig auf W3 hinauslaufen wird, auf die höchste Gehaltsstufe für Professor/innen, anstatt auf Hartz 4. Der Grad ist schmal. Zur Zeit hangelt sie sich und ihre Familie mit zwei halben Stellen durchs Leben, und sie pendelt, denn der Hochdeputatsjob ist in Westdeutschland.
»Eigentlich müsste man solche Arrangements bestreiken «, sagte A. »Aber das traut sich leider kaum jemand. Und man muss es sich ja überhaupt erstmal leisten können.« Er griff zum letzten Stück Schokolade; die Kaffeerunde löste sich auf.