Die Debatte ist das privilegierte Format der Selbstvergewisserung in der bürgerlichen Gesellschaft. Debatten, so sagt man, sind Ausweis einer »lebendigen Streitkultur«, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um »Scheindebatten« oder gar »Gespensterdebatten«. Die eigentliche Domäne der Debatte ist das Feuilleton. Hier hat sich ein schier unüberblickbares Register aus Debatten entwickelt, meist sortiert nach männlichen Eigennamen. Schlag nach unter: »Walser-Debatte«, »Grass-Debatte«, »Mosebach-Debatte« etc. pp. So offen Debatten zu sein haben, so geregelt sind sie zugleich. Eine Ordnung der Prominenz legt fest, wer ein ›starker Sender‹ ist, Sprecherpositionen und Zuständigkeiten dürfen in der Ökonomie der Aufmerksamkeit nicht dem Zufall überlassen bleiben. Diese regulative Funktion von Debatten widerspricht allerdings dem Gestus, mit dem sie oft angezettelt werden. Der Debattenkönner stellt sich nämlich gerne an einen - fiktiven - anarchischen Nullpunkt, an dem völlig neu nachgedacht werden müsse und könne. Die Debatte versetzt demzufolge in Bewegung, was starr war. Viele Debatten beginnen denn auch mit einem sogenannten »Tabubruch«: Endlich werde geredet, worüber angeblich noch nie geredet werden durfte (beispielsweise über die »Israel-Lobby« oder die Geistesverwandtschaft zwischen Saint-Just und Himmler). Leider dementiert diese Geste sich selbst, denn längst hat sich der Tabubruch zum wiederkehrenden Ritual verfestigt, zum Unterschied, der keinen Unterschied mehr macht. Hat zum Beispiel jemand mitgezählt, wie viele RAF-Debatten oder Nazivergleich-Debatten es schon gegeben hat? Vergangene Debatten funktionieren als vielsagende Platzhalter, mit denen sich der Sprecher in einen Kontext einschreiben kann (»die x-Debatte hat ja gezeigt, dass...«). So entsteht gerade im feuilletonistischen Diskurs ein geschlossenes Debattensystem, in dem jede Debatte immer schon auf eine andere Debatte verweist. Die »Offenheit« der Debatten beschränkt sich dabei meist darauf, dass sie ohne Entscheidung oder Fazit enden und so auf mysteriöse Weise ausklingen. Überhaupt klafft zwischen der Realität der Debattenkultur und ihrem Freiheitsversprechen oft eine tiefe Kluft: Weil jede Debatte früher oder später professionelle Zuständigkeiten auf den Plan ruft und sie von Debattokraten bewirtschaftet wird, geschieht Unvorhersehbares nur in Ausnahmefällen. Nicht jedes Gerede ist eine Debatte, über Relevanz des Themas und zugelassene Positionen bestimmen die Gatekeeper in den Redaktionen. Von der Suspension der Sachzwänge, die man sich mit jeder »offenen« Debatte zu gönnen glaubt, bleibt dadurch wenig übrig. Ja, die Debatte kann selbst in die Fänge der Technokratie geraten und zum Sachzwang werden, zum Sachzwang zweiter Ordnung gewissermaßen. Wer etwa die Demographie-Debatte unwichtig findet, erscheint als unvernünftig, weil er den Tatsachen nicht ins Auge sehen will. Die vor allem in der Politik beliebte Ansage »Wir müssen diese Debatte führen!« markiert eben diesen Punkt, wo die Debatte von angeblich objektiven Notwendigkeiten statt von idiosynkratischer Lust und Laune angetrieben wird. Wenn man auf der Höhe der Zeit sein will, dann dürfen notwendige Debatten nicht verdrängt werden. Das holt einen eines Tages unangenehm ein.
Sollte die Debatte wegen ihres Zwangscharakters also abgeschafft werden? Keineswegs. Im Gegenteil: Sie müsste vor den beschriebenen Verfallsformen bewahrt werden. Denn wenn sie gelingt, dann fördert sie zwischen den Kuschelkissen des Postpolitischen wenigstens noch ein paar ideologische Krümel zutage. Trotz all ihrer Trägheit hat die Grass-Debatte immerhin denen, die es noch nicht wussten, die Entlastungsbedürfnisse diverser Feuilletonisten vorgeführt (›ja, wenn selbst der ein Nazi war, dann muss die linke Moralkeule jetzt ein für allemal einpackt werden‹). Der immer wieder ertönende Aufruf, man solle diese oder jene Debatte »nicht ideologisch führen«, wäre dann allerdings eine Verkennung des tiefen Sinns jeder Debatte. Wir brauchen gerade mehr »Gespensterdebatten«, solche nämlich, die von jenen ›untoten‹ Ideologien heimgesucht werden, die im Selbstbild der demokratischen Diskursgemeinschaft verleugnet werden. Je mehr Maßlosigkeiten und Maximalforderungen in Debatten umhergeistern, desto besser. Für pragmatische Kleinteiligkeit gibt es schließlich genügend andere Formate.