Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #4: Über Arbeiten



Editorial

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



ANSCHLUSS

 
Ralf Obermauer
Die Hölle, das ist ohne die Anderen
Tätigkeit und sozialer Sinn in politischen Diskursen
 
 

Axel Honneth

Arbeit und Anerkennung

Versuch einer Neubestimmung


Noch nie in den letzten zweihundert Jahren hat es um Bemühungen, einen emanzipatorischen, humanen Begriff der Arbeit zu verteidigen, so schlecht gestanden wie heute . Die faktische Entwicklung in der Organisation von Industrie-und Dienstleistungsarbeit scheint allen Versuchen, die Qualität der Arbeit zu verbessern, den Boden entzogen zu haben: Ein wachsender Teil der Bevölkerung kämpft nur noch um den Zugang zu Chancen subsistenzsichernder Beschäftigung, ein anderer Teil arbeitet unter rechtlich kaum mehr geschützten Verhältnissen, ein dritter Teil schließlich erfährt im Augenblick die rapide Entberuflichung und Entbetrieblichung ihrer vormals noch statusmäßig gesicherten Arbeitsplätze.

Trotz aller Prognosen eines Endes der Arbeitsgesellschaft ist es nicht zu einem Relevanzverlust der Arbeit in der gesellschaftlichen Lebenswelt gekommen: Nach wie vor macht die Mehrheit der Bevölkerung die eigene soziale Identität primär von der Rolle im organisierten Arbeitsprozess abhängig. Von einem Bedeutungsverlust der Arbeit kann aber nicht nur in einem lebensweltlichen Sinn, sondern auch in einem normativen Sinn nicht die Rede sein: Arbeitslosigkeit wird weiterhin als soziales Stigma und individueller Makel erfahren, prekäre Beschäftigungsverhältnisse werden als belastend empfunden, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes stößt in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Unbehagen. Die Sehnsucht nach einem nicht nur subsistenzsichernden, sondern auch individuell befriedigenden Arbeitsplatz ist keinesfalls verschwunden, nur bestimmt sie nicht mehr die öffentlichen Diskussionen und die Arenen der politischen Auseinandersetzung; aber aus der eigentümlichen, beklemmenden Sprachlosigkeit zu schließen, dass Forderungen nach einer Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse endgültig der Geschichte angehören, wäre empirisch falsch und nahezu zynisch.

Immanente und externe Kritik der Arbeitsverhältnisse
Wie nun müsste die Kategorie der gesellschaftlichen Arbeit heute in den Rahmen einer Gesellschaftstheorie einbezogen werden, damit eine nicht bloß utopische Perspektive auf qualitative Verbesserungen eröffnet wird? Um dieses komplexe Problem angehen zu können, will ich zunächst vorschlagen, die Unterscheidung von externer und immanenter Kritik auch auf die Absicht einer Kritik der existierenden Arbeitsverhältnisse anzuwenden: Von einer immanenten Kritik, in der die normativen Forderungen keinen bloßen Sollenscharakter mehr besitzen, können wir hier nur dann sprechen, wenn die Idee einer sinnvollen, gesicherten Arbeit als Vernunftanspruch in die Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion selbst eingebaut ist. Die gesellschaftliche Arbeit kann nur dann diese Rolle einer immanenten Norm übernehmen, wenn sie an die Anerkennungsbedingungen im modernen Leistungsaustausch gebunden wird: Jede Arbeit, die die Schwelle des bloß privaten, autonomen Tätigseins überschritten hat, muss in einer bestimmten Weise organisiert und strukturiert sein, um die gesellschaftlich in Aussicht gestellte Anerkennungswürdigkeit zu besitzen. Schließlich ist mit dieser strukturellen Verkoppelung von Arbeit und Anerkennung die Forderung einer Umgestaltung der modernen Arbeitswelt im Sinne einer gerechten Organisation der Arbeitsteilung verknüpft.

Utopie der kreativen Arbeit
Seit dem Beginn der Industriellen Revolution hat es an utopischen Entwürfen einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Arbeit nicht gemangelt. Als Triebkraft dieser emanzipatorischen Vorstellungen wirkte zu Beginn die Welt des Handwerkers: Während hier der Vollzug der Arbeit vollständig in den Händen der arbeitenden Person lag, die die gesamte Ausführung im Vertrautsein mit dem Material schöpferisch gestalten und im fertigen Produkt schließlich eine Objektivation der eigenen Fertigkeiten erblicken konnte, waren dem Arbeiter in der Fabrik solche ganzheitlichen Erfahrungen restlos verschlossen, weil seine Tätigkeit fremdbestimmt, zerrissen und initiativlos war. Je nach weltanschaulicher Orientierung wurden an dem Modell der Handwerkstätigkeit entweder die Züge einer freiwilligen, selbstgesteuerten Kooperation oder die Elemente einer individuellen Selbstobjektivation stark gemacht: Im ersten Fall erschien die neue, kapitalistische Form der Erwerbsarbeit deswegen als verdammenswert, weil sie das schöpferische Zusammenwirken der Arbeitssubjekte außer Kraft setzte, im zweiten Fall hingegen, weil sie den organischen Prozess der Vergegenständlichung eigener Fähigkeiten zerstückelte und in einzelne, für sich bedeutungslose Segmente aufteilte. Zusätzlichen Zündstoff erhielt diese Kritik an der kapitalistischen Organisationsform der Arbeit, sobald auch ästhetische Modelle der Produktion in die Vision einer unentfremdeten, eigeninitiativen Tätigkeit einbezogen wurden: Vor allem bei den sozialistisch orientierten Erben der deutschen Frühromantik machte sich die Vorstellung breit, dass alle menschliche Arbeit Züge jener selbstzweckhaften Kreativität besitzen sollte, die exemplarisch in der Verfertigung eines Kunstwerks zum Tragen kommen.

So anschaulich und packend all diese Ideen einer Befreiung der Arbeit aber auch waren, so folgenlos sind sie am Ende doch für die tatsächliche Geschichte der Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit geblieben. Das romantisch verklärte Modell der Handwerkstätigkeit und das ästhetische Ideal der künstlerischen Produktion enthielten zwar genügend Schubkraft, um unsere Vorstellungen eines guten, gelingenden Lebens nachhaltig zu verändern; aber auf die Kämpfe der Arbeiterbewegung, auf die sozialistischen Bestrebungen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und nach Möglichkeit den Interessen der Produzenten zu überantworten, haben sie so gut wie keinen Einfluss nehmen können.

Die zwiespältige Wirkung, die von den Arbeitsutopien des 19. Jahrhunderts ausgingen, erklärt sich aus dem Umstand, dass sie sich kaum auf die Anforderungen der wirtschaftlich organisierten Arbeit beziehen ließen: Die Tätigkeitsweisen, die sie auszeichneten und zum paradigmatischen Vorbild erkoren, waren zu extravagant, als dass sie als Gestaltungsmodell für all die Vorrichtungen dienen konnten, die für die Reproduktion der Gesellschaft erforderlich waren. Hier, im Bereich der ökonomischen Sphäre, unterliegen die individuell vollzogenen Tätigkeiten besonderen Anforderungen, die sich aus der Notwendigkeit ihres Einbringens in den gesellschaftlichen Leistungsaustausch ergeben. Ich will daher alle Versuche, die gegebenen, kapitalistischen Arbeitsverhältnisse im Lichte von Modellen des organischen, allein selbstgesteuerten Produzierens zu kritisieren, als Formen einer externen Kritik bezeichnen: Sie berufen sich normativ auf Tätigkeitsweisen, die dem kritisierten Gegenstand bloß äußerlich bleiben, weil sie strukturell mit den in der Wirtschaftssphäre erforderlichen Arbeiten unvereinbar sind. Was für das gute Leben des Einzelnen an Arbeitserfahrungen notwendig sein mag, darf nicht zugleich als Maßstab an die Beurteilung der gesellschaftlich organisierten Produktionssphäre herangetragen werden; denn hier herrschen Zwänge und Bedingungen, die es auch bei einer denkbar weiten Auslegung erforderlich machen, Tätigkeiten von einem ganz anderen Charakter als dem des Handwerks oder der Kunst auszuführen.

Die Schwelle zu einer immanenten Kritik der existierenden Organisation von gesellschaftlicher Arbeit wird erst in dem Augenblick überschritten, in dem moralische Normen herangezogen werden, die dem gesellschaftlichen Leistungstausch selbst als Vernunftanspruch innewohnen; mit der institutionalisierten Idee, die eigene Arbeit als Beitrag zur sozialen Arbeitsteilung zu verstehen, sind nämlich normative Ansprüche verknüpft, die bis auf die Ebene der Gestaltung der Arbeitsplätze durchschlagen.

Ein solcher Ansatz macht es allerdings erforderlich, den kapitalistischen Arbeitsmarkt nicht nur unter der funktionalistischen Perspektive der Steigerung von ökonomischer Effizienz zu betrachten; so würde an den Strukturen der modernen Arbeitsorganisation tatsächlich nur eine dünne Schicht strategischer Regelungen zu Tage treten. Wird hingegen berücksichtigt, dass der kapitalistische Arbeitsmarkt auch die Funktion der sozialen Integration zu erbringen hat, so ändert sich das Bild vollständig und wir stoßen auf eine Reihe von moralischen Normen, die der modernen Arbeitswelt zugrunde liegen.

Normative Bedingungen des kapitalistischen Arbeitsmarktes
Schon Hegel hat in seiner Rechtsphilosophie den Versuch unternommen, in den sich vor seinen Augen herausbildenden Strukturen der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation die Elemente einer neuen Form der Sozialintegration zu entdecken. Für ihn stand es von Beginn an außer Frage, dass sich die Leistungen des nunmehr marktvermittelten Systems der Bedarfsdeckung nicht allein in Kategorien der ökonomischen Effizienz messen lassen dürfen; zwar steigert auch aus seiner Sicht die neue Institution des Marktes die Produktivität des wirtschaftlichen Handelns beträchtlich, aber ihre Funktion darf sich nicht auf diese eine, bloß äußerliche Leistung beschränken, weil sie ansonsten ohne jede sittliche Verankerung in der Gesellschaft, also ohne die erforderliche moralische Legitimation bleiben würde. Daher versucht Hegel zu zeigen, dass das ganze System eines marktvermittelten Austauschs von eigener Arbeit gegen Mittel der Bedürfnisbefriedigung nur dann auf Zustimmung stoßen kann, wenn es bestimmte normative Bedingungen erfüllt.

Die erste integrative Leistung der neuen Wirtschaftsform besteht für ihn darin, dass sie die »subjektive Selbstsucht« des Einzelnen in die individuelle Bereitschaft verwandelt, »zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen« tätig zu sein; in dem Augenblick, in dem der ökonomische Bedarf der Bevölkerung durch Transaktionen auf einem anonymen Markt gedeckt werden soll, muss jedes (männliche) Gesellschaftsmitglied dazu bereit sein, persönliche Neigungen des Müßiggangs abzustreifen und durch eigene Arbeit zum allgemeinen Wohl beizutragen.

Diese generalisierte Verpflichtung zur Leistungserbringung beinhaltet für Hegel, die eigenen Fähigkeiten und Begabungen nach Möglichkeit so zu entwickeln, dass sie der Vermehrung des »allgemeinen, bleibenden Vermögens« zugute kommen können. Allerdings ist die Bereitschaft, auf solche Weise zum gesellschaftlichen Wohl beizutragen, nun umgekehrt an die Voraussetzung einer entsprechenden Gegenleistung geknüpft: Jeder Teilnehmer an dem marktvermittelten Leistungsaustausch hat »das Recht, sein Brot zu verdienen«. Insofern erblickt Hegel die zweite normative Errungenschaft der neuen Wirtschaftsform darin, ein System der wechselseitigen Abhängigkeit zu schaffen, das die ökonomische Subsistenz aller seiner Mitglieder sichert; in der Sprache, die wir heute verwenden, ist die Erwartung der Leistungserbringung an die Bedingung der Gewährung eines Mindestlohns geknüpft, der die finanziellen Mittel zur ökonomischen Selbstständigkeit enthalten muss.

Im System des marktvermittelten Austauschverhältnisses erkennen sich die Subjekte wechselseitig als privatautonome Wesen an, die füreinander tätig sind und auf diese Weise durch ihre sozialen Arbeitsbeiträge ihr Leben erhalten.

»Bürgerliche Ehre«
Nun ist Hegel freilich schon hellsichtig genug, um auch die Entwicklungen der kapitalistischen Marktwirtschaft voraussehen zu können, die mit deren normativen Anerkennungsbedingungen in einen Widerspruch zu geraten drohen. Die gewinnorientierte Güterproduktion erzeugt über kurz oder lang das Problem, dass sich auf der einen Seite die »Reichtümer« in den Händen Weniger konzentrieren, während auf der anderen Seite bei der »großen Masse« »Abhängigkeit und Not« entsteht. Im »Pöbel« findet sich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung vereinigt, der bar jeder Chance der marktvermittelten Anerkennung von Arbeitsleistungen ist und daher unter dem Mangel an »bürgerlicher Ehre« leidet. Sozialstaatliche Transferleistungen würden daran nichts ändern.

Nach der Überzeugung Hegels gehört es zu den moralischen Bedingungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation, dass die Arbeitsleistungen der Einzelnen nicht nur durch ein subsistenzsicherndes Einkommen entlohnt werden, sondern auch ihrer Gestalt nach eine Form bewahren, die sie als Beiträge zum allgemeinen Wohl erkennbar sein lässt; die ganze Idee des wechselseitigen Austauschs von Leistungen verlangt es, dass die einzelnen Tätigkeiten eine hinreichend komplexe, Fertigkeiten demonstrierende Struktur behalten, um sich der allgemeinen Anerkennung als würdig zu erweisen, die mit der »bürgerlichen Ehre« verknüpft ist. Diverse soziale Institutionen müssen deshalb dafür sorgen, dass die Tüchtigkeiten ihrer Mitglieder genügend Pflege und öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, um sich auch künftig allgemeiner Wertschätzung erfreuen zu können. Hegel lässt diese Korporationen mithin eine Aufgabe übernehmen, die in den Bestandsvoraussetzungen der neuen Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit selbst als ein normativer Anspruch verankert ist.

Mit diesen Überlegungen wird deutlich, dass die berühmte These von Karl Polanyi, der zufolge der kapitalistische Arbeitsmarkt aus allen lebensweltlichen Rahmungen weitgehend »entbettet« worden ist, zumindest fragwürdig ist; in Übereinstimmung mit gegenwärtigen Versuchen, die sozialen und normativen Bestandsvoraussetzungen von Märkten wieder stärker zu betonen, müsste man wohl eher von einer wachsenden Verdrängung der normativen, ja moralischen Bedingungen des Marktgeschehens sprechen.

Denn die Strukturen eines kapitalistischen Arbeitsmarktes haben sich zunächst nur unter der höchst anspruchsvollen, ethischen Voraussetzung herausbilden können, dass die von ihnen erfassten Schichten die legitime Erwartung einer subsistenzsichernden Entlohnung und einer anerkennungswürdigen Arbeit hegen konnten. Das neue System des Marktes kann Hegel zufolge also nur unter zwei Bedingungen normative Zustimmung von den Betroffenen beanspruchen: Dass es erstens die erwerbsmäßig erbrachte Arbeit mit einem Mindestlohn ausstattet und zweitens den vollzogenen Tätigkeiten eine Gestalt gibt, die sie als Beiträge zum allgemeinen Wohl erkennbar sein lässt.

Kontrafaktische Geltung
Die größte Schwierigkeit liegt hier darin, dass diese Bedingungen einerseits auf die faktische Wirtschaftsentwicklung nur geringen Einfluss genommen haben und andererseits in ihr doch von allgemeiner Geltung sein sollen. Was soll es heißen, dass die kapitalistische Arbeitsorganisation in einen Horizont von legitimitätssichernden moralischen Normen eingebettet ist, wenn diese doch auch aus der Hegelschen Sicht eine Verselbstständigung der bloß gewinnorientierten Produktion kaum haben verhindern können? Eine Auflösung des damit umrissenen Widerspruchs kann nur darin bestehen, diese Normen als kontrafaktische Geltungsgrundlage der kapitalistischen Organisation der Arbeit zu verstehen: Weil die Beteiligten die neue Wirtschaftsform nur dann verstehen und als zum »allgemeinen Wohl« beitragend betrachten können, wenn sie dabei gedanklich die beiden Normen voraussetzen, baut die marktvermittelte Organisation der Arbeit auf normativen Bedingungen auf, die auch bei faktischer Außerkraftsetzung ihre Geltung nicht verlieren. Diese »Einbettung« macht das Funktionieren des kapitalistischen Arbeitsmarktes von normativen Bedingungen abhängig, die er selbst nicht zwangsläufig erfüllen können muss: Der Markt des Austauschs von Arbeit funktioniert unter der Voraussetzung von moralischen Normen, die auch dann in Geltung bleiben, wenn die historische Entwicklung gegen sie verstößt. Zugleich bilden diese normativen Hintergrundgewissheiten aber auch die moralische Ressource, auf die die Akteure zurückgreifen können, um die existierenden Regelungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation infrage zu stellen: Es bedarf dann nicht der Berufung auf jenseitige Werte oder universalistische Prinzipien, sondern nur einer Mobilisierung jener impliziten Normen, die als Verstehens- und Akzeptanzbedingung in die Verfassung des modernen Arbeitsmarktes eingelassen sind. Allen sozialen Bewegungen, die in der Vergangenheit gegen unzumutbare Lohnbedingungen oder die Dequalifizierung der Arbeit aufbegehrt haben, ging es um Ziele wie die Verteidigung von hinreichend komplexen, nicht vollkommen fremdbestimmten Arbeitsplätzen oder die Erkämpfung subsistenzsichernder Einkommen, also um durchweg normative Ansprüche, die Hegel im Begriff der »bürgerlichen Ehre« zusammengefasst hatte.

Die Moral der Arbeitsteilung

Einen energischen Versuch, auch Forderungen nach einer qualitativ sinnvollen Arbeit als immanente Ansprüche der neuen Wirtschaftsform zu begreifen, unternimmt allerdings erst Emile Durkheim. Auch er untersucht die Strukturen der kapitalistischen Arbeitsorganisation primär unter dem Gesichtspunkt, welchen Beitrag sie zur sozialen Integration moderner Gesellschaften leisten können; und auch er stößt dabei auf eine Reihe von normativen Bedingungen, die den marktvermittelten Austauschbeziehungen in Form kontrafaktischer Unterstellungen und Ideale zugrunde liegen. Die bloße Aussicht auf ökonomisches Wachstum und wirtschaftliche Effizienz reicht nicht aus, um die neue Wirtschaftsform mit der Art von moralischer Legitimation auszustatten, die für die soziale Integration erforderlich ist. Durkheim sucht aber nicht etwa nach Quellen der Solidarität außerhalb der sozialen Wirtschaftsorganisation sondern identifiziert in den Strukturen der neuen, kapitalistischen Arbeitsorganisation selbst die Bedingungen, die zu einem veränderten Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit führen könnten: Die Solidarität, die nötig ist, um auch moderne Gesellschaften sozial zu integrieren, soll nicht aus Quellen der moralischen oder religiösen Tradition, sondern der ökonomischen Wirklichkeit fließen.

Die kapitalistische Organisation der Arbeit darf dann aber nicht in ihrer zufälligen, empirisch gegebenen Gestalt präsentiert, sondern muss in den normativen Zügen zur Darstellung gebracht werden, die ihre öffentliche Rechtfertigbarkeit ausmachen; würde es nämlich nur beim Ersten bleiben, also der bloß empirischen Wiedergabe, so ließe sich nicht einsichtig machen, warum die neue Wirtschaftsform eine Quelle der sittlichen Integration oder der Solidarität sein sollte. Aus diesem Grund führt Durkheim vor, dass unter den neuen ökonomischen Bedingungen jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft einen Anspruch darauf hat, einen arbeitsteiligen Beitrag zum allgemeinen Wohlstand zu leisten, für den ihm im Gegenzug ein angemessenes, mindestens subsistenzsicherndes Einkommen zusteht. Mit der marktvermittelten Arbeitsteilung entstehen soziale Verhältnisse, in denen die Gesellschaftsmitglieder deswegen eine besondere, »organische« Solidarität ausbilden können, weil sie sich in der wechselseitigen Anerkennung ihrer jeweiligen Beiträge zum gemeinsamen Wohlstand aufeinander bezogen wissen. Durkheim legt dabei besonderes Gewicht auf die Fairness und Transparenz der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Nach seiner Überzeugung kann die neue Wirtschaftsform die Funktion der sozialen Integration nur dann übernehmen, wenn sie zwei moralische Bedingungen erfüllt, die als kontrafaktische Unterstellungen in allen Austauschbeziehungen des Arbeitsmarktes wirksam sind. Damit die Beschäftigten den Arbeitsverträgen tatsächlich aus freien Stücken zustimmen können, muss erstens ständig dafür gesorgt sein, dass gleiche Ausgangsbedingungen bei dem Erwerb der notwendigen Qualifikationen herrschen und alle sozialen Beiträge gemäß ihres realen Werts für die Gemeinschaft entlohnt werden. Gerechtigkeit und Fairness sind somit für Durkheim keine normativen Ideale, die von außen an die kapitalistische Arbeitsorganisation herangetragen würden, sondern bilden innerhalb ihres Rahmens funktional notwendige Unterstellungen, ohne deren Inkraftsetzung ein Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit nicht entstehen könnte. Um die Funktion der sozialen Integration erfüllen zu können, müssen die marktvermittelten Arbeitsverhältnisse aber nicht nur gerecht und fair organisiert sein, sondern auch der Forderung genügen, die einzelnen Tätigkeiten möglichst transparent und übersichtlich aufeinander zu beziehen.

 

Komplexität und Transparenz

Damit liefert Durkheim zugleich ein Kriterium für die erforderliche Gestaltung der individuellen Tätigkeiten. Von jedem einzelnen Arbeitsplatz aus muss überblickt werden können, in welchem kooperativen Zusammenhang die eigene Tätigkeit mit der aller anderen Beschäftigten steht; das jedoch ist nur möglich, wenn die verschiedenen Arbeitsvollzüge so komplex und anspruchsvoll sind, dass sie der Einzelne aus seiner Perspektive mit dem Rest der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten in einen halbwegs sinnvollen Zusammenhang bringen kann. Die Forderung nach einer qualitätsreichen, sinnvollen Arbeit ist demnach ein Anspruch, der in den normativen Bedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems selbst verankert ist: »Die Arbeitsteilung setzt voraus, daß der Arbeiter, statt über seine Aufgabe gebeugt zu bleiben, seine Mitarbeiter nicht aus den Augen verliert, auf sie einwirkt und von ihnen beeinflusst wird. Er ist also keine Maschine, die Bewegungen ausführt, deren Richtung er nicht kennt, sondern er weiß, daß sie irgendwohin tendieren, auf ein Ziel, das er mehr oder weniger deutlich begreift. Er fühlt, daß er zu etwas dient.« Es mag sein, dass auch Hegel solche Vorstellungen vor Augen hatte, als er von der »bürgerlichen Ehre« als der Form von Anerkennung sprach, die jedem Mitglied der marktvermittelten Arbeitsgesellschaft zuzustehen hat; aber erst Durkheim ist konsequent genug, die normativen Implikationen der neuen Vergesellschaftungsform so weit auszubuchstabieren, dass auch Ansprüche auf eine als sinnvoll erlebbare Arbeit darunter fallen.

Eine nicht-utopische, immanente Chance, die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen zu kritisieren, bestünde daher darin, an diesen impliziten Voraussetzungen anzuknüpfen und sie erneut zur Geltung zu bringen.

Dieser Text ist die gekürzte Version eines gleichnamigen Vortragsmanuskripts.



 
Anton Leist
Ausstieg oder Ausbildung
Ein Vorschlag zur Arbeitsgesellschaft jenseits von Marx und Gorz
 
Birger P. Priddat
Wert, Kompetenz, Kommunikation, Spiel
Elemente einer modernen Theorie der Arbeit
 
Chrisitan Neuhäuser
Was machen Sie eigentlich so?
Arbeit, Arbeitslosigkeit und WĂĽrde
 
Neue Deutsche Sprachkritik
>Was bin ich?<
Der wahre Text
 
Nina Apin
Tren Blanco – Der Weiße Zug
Die MĂĽllsammler von Buenos Aires
 
»Menschen mit schmutzigen Händen«
Interview mit Ali Witwit
 
Christophe Dejours
Suizid am Arbeitsplatz
Zur Psychopathologie der modernen Arbeitswelt
 
Aram Lintzel
Sinncontainer
>Debatte<
 
»Die neue Verwundbarkeit«
Interview mit Robert Castel
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus
>Paradise lost<



HIRN

 
Judith Revel und Antonio Negri
Die Erfindung des Gemeinsamen
Acht Thesen zur Transformation der Arbeitswelt
 
Don Tapscott
Unternehmen 2.0
Die neue Ă–konomie gemeinschaftlicher Zusammenarbeit
 
»In der Wissensökonomie könnte Geld unnötig werden«
Interview mit André Gorz
 
Johannes Albers
»Polke, du faule Sau«
Faule Künstler im Zeitalter von Rekordumsätzen über die dann in der Gala berichtet wird
 
Kendra Briken
Hirn und Muskeln
Arbeit in der Wissensgesellschaft
 
Tim Caspar Boehme
Macht sauber, was euch kaputt macht
Kunstpraxis als gesellschaftliches Dialogfeld
 
»Arbeit im Reich der Freiheit?«
Streitgespräch mit Katrin Göring-Eckardt und Katja Kipping
 
Adrienne Goehler
Nicht mehr und noch nicht
Die Hauptstadt als Laboratorium einer Kulturgesellschaft
 
»Festanstellung ist der Tod«
Holm Friebe, Adrienne Goehler, Christiane Schnell und Melissa Logan im Gespräch
 
Alexandra Manske
Kreative Superstars
Die soziale Platzierungsstrategie der »Digitalen Bohème«
 
Arnd Pollmann / Anja Wollenberg / Stefan Huster / Peter Siller
Ist es links?
>Selbstbestimmung<
 
Christoph Raiser
Mein halbes Jahr
>Musik<
 
Simon Rothöhler
Mein halbes Jahr
>Film<
 
Peter Siller
Mein halbes Jahr
>Literatur<



SPIEL

 
Michael Eggers
Lustspiele und Frustspiele
Die Welt der Manager und Praktikanten als offenes Drama
 
»L-L-Löwenbändiger!!!«
Interview mit der Berufsberaterin Uta Glaubitz
 
Klaus Dörre
Ausweitung der Prekaritätszone
Vom Ende der Arbeitsgesellschaft, wie wir sie kannten
 
Dominik Walther
Schuften im Weltall
Filmische Zukunftsszenarien jenseits von Grundeinkommen und Vollbeschäftigung
 
Judith Siegmund
Berufung – Job – Maloche
Kunst mit Arendt zum Ende der Arbeit
 
Martin Saar
Bildpolitik
>Arbeitsschutz<



SCHÖNHEITEN

Diese Seite steht zur Zeit nicht zur Verfügung.


nach oben