Seit einiger Zeit hört man in der französischen Öffentlichkeit von Selbstmorden bei der Arbeit . Im selben Unternehmen ereignen sich drei, vier, fünf Suizide innerhalb weniger Monate . Diese »Serienselbstmorde« finden am Arbeitsplatz statt, oder außerhalb des Unternehmens mit Abschiedsbriefen, in denen explizit Arbeitgeber und Arbeitsbedingungen beschuldigt werden. Das alles hat nichts mit einer »Ansteckung« oder »Epidemie« zu tun. Ganz im Gegenteil. Es handelt sich um Akte individueller Aussichtslosigkeit, die auf eine pathologische Vereinsamung hinweisen. Dennoch haben diese Dramen natürlich eine Wirkung auf die Kollegen. Für all jene, die im selben Unternehmen arbeiten, signalisiert der Suizid eines Arbeitnehmers eine grundlegende Malaise - das furchtbare Ausmaß der Verzweiflung, die Trostlosigkeit nach dem Zerfall der traditionellen und für die »Welt« der Betroffenen konstitutiven Arbeitsbeziehungen, die dadurch noch verschlimmert wird, dass dieser gar keine oder nur eine sehr schwache und machtlose soziale, organisatorische und kollektive Reaktion hervorruft. Das Ausbleiben einer angemessenen Reaktion läuft faktisch auf eine Banalisierung des Suizids hinaus: Morgen wird es vielleicht schon meinen Büro-Nachbarn oder den Kollegen aus der Arbeitsgruppe treffen, übermorgen werde ich mich vielleicht sogar selbst umbringen, aber das wird das Voranschreiten einer neuen Form der mörderischen Entfremdung nicht aufhalten. Die Serienselbstmorde zeigen, wie tief die Pathologie der Vereinsamung schon Teil unserer Arbeitswelt geworden ist.
Wer sind die Opfer?
Bei Renault in Guyancourt sind es technische Führungskräfte und Ingenieure; bei Peugeot in Mulhouse Arbeiter; bei Electricité de France in Chinon hochqualifizierte Techniker. Anderswo trifft es auch Repräsentanten der Pharma-Industrie, Krankenschwestern, höhere Angestellte im Vertrieb... Momentan lässt sich nicht sagen, dass eine Berufsgruppe stärker als die anderen betroffen wäre. Unter den Toten sind ebenso viele Männer wie Frauen, und die Arbeitssituationen, in denen sich die Dramen abspielen, variieren. Die Suizide ereignen sich nicht nur in einem sozialen Kontext, der ein stark eingeschränktes Privatleben, sondern manchmal ganz im Gegenteil ein dichtes und solides Netz persönlicher Beziehungen aufweist. Manche Selbstmörder sind schon lange isoliert und mit der Gleichgültigkeit ihrer Kollegen konfrontiert, andere aber auch gern gesehen oder hoch geachtet in ihrem professionellen Umfeld.
Welche Prozesse sind beteiligt, wenn es zu dieser Art des Suizids kommt? In den allermeisten Fällen liegt eine Überlastung durch die Arbeit vor. Kann aber allein die Überarbeitung zum Selbstmord führen? Überlastung, Ermüdung, Erschöpfung und Überbeanspruchung sind in der Arbeitswelt nichts Neues. Im Allgemeinen gehen sie eher mit körperlichen Pathologien wie Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Muskelbeschwerden oder Alkohol- und Kokainmissbrauch einher. Bei einem psychischen Prozess spielt die Überarbeitung nur zu Beginn eine ursächliche Rolle, der danach durch eine »Komplikation« der pathogenen Effekte der Überlastung gekennzeichnet ist, wie man in der Medizin einen unvorteilhaften und ungewöhnlichen Krankheitsverlauf bezeichnet.
Im gegenwärtigen Kontext neuer Formen der Arbeitsorganisation hat die Überlastung vor allem die Tendenz, die Arbeitnehmer noch mehr von ihren Kollegen zu isolieren, da die gesamte Zeit, die einst für das gesellige Beisammensein reserviert war, nun genutzt wird, um den Rückstand aufzuholen. In vielen Fällen wechseln die engsten Kollegen jeden Tag (vielseitige Einsetzbarkeit, Großraumbüros, ständige Versetzungen in andere Regionen oder ins Ausland) – das untergräbt jede Form der Zusammengehörigkeit. In anderen Fällen ist es unmöglich, den Kopf über Wasser zu halten, weil die Auftragslage, die Anweisungen der Vorgesetzten, Rundmails und verschiedenste Mahnungen, Anfragen anderer Abteilungen des Unternehmens bezüglich der Arbeitsfortschritte oder der technischen und kommerziellen Eigenschaften eines Produkts nicht abreißen und direkt auf dem Arbeitsplatz der Betroffenen landen. Unmöglich, hier den Überblick zu behalten, denn alle Nachrichten treffen mit der Begleitbotschaft ein, es sei »dringend« oder »wichtig«. Oft kommen die Anfragen von Unbekannten, manchmal in einer anderen Sprache. Auch eine Antwort, die nur kurz um Aufschub bittet, kostet schon Zeit und unterbricht den Arbeitsablauf. Auf Steigerung angelegte Zielwerte fallen mit kürzeren Bearbeitungszeiten zusammen; und dann auch noch die Indizes, Indikatoren, Evaluationen, Audits etc. etc.! Das Internet eröffnet hier noch mehr als das Telefon die Möglichkeit, jedes Feedback und jede direkte Anweisung im Rahmen eines verbalen Austauschs zu umgehen.
Die Arbeit macht es neben der professionellen Routine oft erforderlich, neue informationelle Verfahren, neue Programme und neue Managementkompetenzen zu lernen. Meist geschieht diese Selbstbildung direkt am Bildschirm und unter beständigem Zeitdruck. Weil auch die Kollegen überlastet sind, kann man auch sie nicht um Hilfe oder einen Rat bitten. »Jeder für sich« ist keine Wahl mehr, sondern drängt sich von selbst auf. Aus der Überlastung erwächst langsam das Gefühl, ständig in Verzug zu sein, die Dinge nie gut genug und mit der notwendigen Ruhe zu erledigen, nur mittelmäßige, schludrige Ergebnisse zu liefern, die einen dazu nötigen, andere hinters Licht zu führen. In anderen Situationen haben die Betroffenen den Eindruck, dass sie an Anlagen, Maschinen, Programmen oder Projekten arbeiten, deren Realisierbarkeit zweifelhaft erscheint, von denen man nicht mehr wirklich überzeugt ist, dass sie die Mühe und Beharrlichkeit lohnen. Die Zweifel den Kollegen anzuvertrauen, ist unmöglich in einer Arbeitswelt, in der man sich noch nicht einmal mehr grüßt.
Zwangsindividualisierung
Früher konnte die Überlastung sozialisiert werden. Man konnte sie durch bestimmte alternative Einstellungen und Verhaltensweisen manifestieren. Die Verhaltensweisen waren kodiert als Mut, Anstrengung, «die Schnauze voll haben», Indignation, Irritation, Protest, Wut, Nervenzusammenbruch, Diebstahl (Leiden, Schmerzen, Angst zu zeigen kam ebenso wenig in Frage, wie sich zu beschweren). Diese Verhaltensweisen wurden von den Kollegen unmittelbar dekodiert, verstanden und übernommen, wenn sie sich in einem ähnlichen Zustand befanden. So entstand kollektiver Protest und Widerstand. Aufgrund von individualisierter Evaluierung der Leistung, Zielvereinbarungen und Total Quality Management ist diese kollektive Solidarität verschwunden. Wenn man sich aber nicht mehr auf die alltägliche Solidarität bei der Arbeit verlassen kann, besteht die einzige Möglichkeit, der Überlastung entgegenzutreten, in der Mobilisierung individueller Ressourcen, etwa persönlicher Ressourcen (wenn man einfach länger arbeitet oder einen Teil der Arbeit mit nach Hause nimmt) oder solcher der Familie und der Freunde (wenn man in der Privatsphäre um technische oder moralische Unterstützung bittet)… bis auch diese Ressourcen schlussendlich erschöpft sind, bis Familie und Freunde entmutigt aufgeben.
Andere überlastete Arbeitnehmer straucheln zwar, bemühen sich aber, ihre Umgebung nicht mit den Folgen zu belasten. Die ständige Verstellung hat wiederum einen hohen psychischen Preis. Wenn der Arbeitnehmer an die Grenzen des Möglichen gerät, wenn die Kluft zwischen subjektivem Erleben und sozialer Inszenierung zu groß, wenn diese Einsamkeit immer undurchdringlicher wird, wenn er von der Wirklichkeit besiegt und ohne Ausweg ist, wendet er sich dem Selbstmord zu. Zwischen Arbeitsleben und Privatsphäre verschwimmen die Grenzen, indem die erste zunehmend die zweite kolonisiert. Wenn das nicht der Fall ist, dann nur auf Kosten einer mit der Verstellung einhergehenden psychischen Anstrengung, welche die internen Konflikte und Ambivalenzen noch verschlimmert. Mit anderen Worten: Was wir als »Komplikation« der Überlastung durch Arbeit bezeichnet haben, ist auf die Abzweigung intimer und privater Ressourcen durch die und für die Arbeit zurückzuführen – zugunsten der Sphäre der Produktion, zu Lasten jener der Reproduktion.
Zum dramatischen Ende kann es dann ganz überraschend kommen, wenn der Arbeitnehmer, nachdem er alle psychischen und intellektuellen Ressourcen aufgebraucht hat, dem Verlust des Selbstvertrauens und der Selbstmissachtung nicht mehr entgehen kann, wenn er sich nicht mehr anders denn als unfähig, ohnmächtig, zu alt erleben kann. Die Kollegen spiegeln eine für ihn nicht mehr bewohnbare Welt wieder. Wendet er sich dem durch eine schwierige Zeit schon arg beschädigten Privatleben zu, findet er nur weitere Gründe für die Absurdität seines aussichtslosen Kampfes in einer Situation, in die er sich selbst hineinmanövriert hat. Noch ein weiterer Schritt und er hat nur mehr Verachtung und Hass für sich übrig – dann ist das Suizidrisiko besonders hoch. Der ganze Prozess, der zu dieser »komplizierten Form« der Überlastung führt, setzt keine vorangehende psychopathologische Störung voraus – auch wenn der krisenhafte Verlauf oft eine solche Störung offenbart, die sich in der Art des Suizids oder auch in Gewaltanwendung gegen andere äußert.
Was charakterisiert also jene Menschen, die sich am Arbeitsplatz das Leben nehmen? Bei ihnen handelt es sich um jene Arbeitnehmer, die sich besonders engagieren und mit viel Eifer bei der Arbeit sind. Sie haben ihrer Liebe zur Arbeit und Hingabe zum Unternehmen einen zu wichtigen Teil ihres Lebens geopfert. Und wenn sie nicht mehr können, will man nichts davon wissen. Diejenigen, die sich aufgrund ihrer Arbeit umbringen, rekrutieren sich also vor allem unter jenen Männern und Frauen, die bei ihrer Arbeit am meisten Engagement zeigen, die zu den Besten gehören. Wer keine Anerkennung vom Unternehmen erwartet, wer bei der Arbeit nur das notwendige Minimum leistet, bringt sich nicht am Arbeitsplatz um. Auch wenn die Nachricht, die von diesen Selbstmorden und ihrer Banalisierung ausgeht, nicht explizit ist, so scheint sie doch auf widersprüchliche Weise anzukommen: Es wäre besser, wenn junge Leute, die zuviel Enthusiasmus mitbringen, künftig drauf achten, einen kühlen Kopf zu bewahren, auf Distanz zu bleiben und sich weder für die eigene Arbeit noch für das Unternehmen allzu sehr zu begeistern.
Aus dem Französischen von Robin Celikates