Was wurde in den 1980ern nicht alles vorhergesagt . Der Arbeitsgesellschaft gehe die Arbeit aus . Ein Ende von Arbeitsteilung und monotoner Produktionstätigkeit schien ebenso möglich wie die Verdrängung hierarchischer Großunternehmen . Heute sind manche dieser Vorhersagen nur noch Schnee von gestern, andere hat die Realität dramatisch überboten . Sicher, große Teile der Bevölkerungen westlicher Kapitalismen verbringen einen wachsenden Teil ihrer Lebenszeit außerhalb betriebsförmig organisierter Erwerbsarbeit - an der objektiven wie subjektiven Zentralität von Erwerbsarbeit hat das aber nichts geändert. Im Gegenteil, gerade in konservativen Wohlfahrtsstaaten wie dem deutschen hängen Lebenschancen und sozialer Status nach wie vor entscheidend vom Zugang zu einer regulären, einigermaßen sicheren, inhaltlich wie finanziell halbwegs befriedigenden Arbeitstätigkeit ab. Auch deshalb wirkt die normative Kraft regulärer Erwerbsarbeit faktisch ungebrochen. Selbst für die große Mehrzahl der Ausgegrenzten ist ein abgesichertes Vollzeitbeschäftigungsverhältnis noch immer der Fluchtpunkt aller Hoffnungen auf ein besseres Leben, den zu erreichen sie freilich kaum noch eine Chance haben.
Diese Aussage gilt, obwohl oder gerade weil sich die Hoffnungen auf eine umfassende Humanisierung der Arbeitswelt nicht erfüllt haben. Die 1990er Jahre waren eine Periode arbeitspolitischer Regression. Nicht nur haben sich tayloristische Arbeit und Standardisierung als äußerst zählebig erwiesen. Hinzu kommt, dass das vielbeschworene Modell »diversifizierter Qualitätsproduktion« tiefe Brüche aufweist. Seit 1997 expandiert hierzulande ein Niedriglohnsektor, der inzwischen nahezu 18 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten umfasst und sich durch eine beträchtliche Lohnspreizung sowie geringe Aufwärtsmobilität auszeichnet. Der Fahrstuhl nach oben funktioniert nicht mehr; abwärts geht es dafür umso rascher.
Arbeitspolitische Regression beschränkt sich aber nicht auf die Niedriglohnbezieher. Wir erleben gegenwärtig eine umfassende Wiederkehr sozialer Unsicherheit. Während der Nachkriegsjahrzehnte hatten stabile Verknüpfung von Lohnarbeit mit starken Schutz- und Partizipationsrechten ein Sozialeigentum geschaffen, das dem Großteil der Lohnabhängigen zu einem respektierten Status in der Gesellschaft verhalf. Obwohl dieses Sozialeigentum ungleich verteilt war - viele Frauen, Migranten sowie formal gering Qualifizierte konnten immer nur eingeschränkt partizipieren -, hatte sich sozialstaatlich eingehegte Lohnarbeit in ein herausragendes gesellschaftliches Integrationsmedium verwandelt.
Heute verliert die Erwerbsarbeit diese Integrationsfunktion zunehmend. Als Folge unternehmerischer Flexibilisierungsstrategien und der Abkehr vom Status sichernden Sozialstaat, prägt Lohnarbeit ihren prekären, d.h. heiklen, unsicheren Charakter wieder deutlicher aus. Getrieben von kapitalmarktorientierten Steuerungsformen, der Einführung von Marktmechanismen in die bürokratische Unternehmensorganisation und einem Managementregime des raschen Profits, spalten sich die Arbeitsgesellschaften in Zonen unterschiedlicher Sicherheitsniveaus. Zwar befindet sich die Mehrzahl der Beschäftigten hierzulande noch immer in einer »Zone der Integration« mit standardisierten Arbeitsverhältnissen und halbwegs intakten sozialen Netzen. Darunter expandiert jedoch eine »Zone der Prekarität« mit unsicherer Beschäftigung (Minijobs, Solo-Selbständigkeit, Leiharbeit, erzwungene Teilzeit) und erodierenden sozialen Netzen. Am unteren Ende der Hierarchie entsteht eine Zone der Entkoppelung, in der sich Gruppen ohne reale Chance auf eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt befinden. Bei diesen »Überzähligen« paart sich der Ausschluss von regulärer Erwerbsarbeit mit relativer sozialer Isolation und im Extremfall mit sozialer Verwahrlosung.
Aber selbst in der »Zone der Integration« existiert ein eigenständiger Prekarisierungsherd. Standortkonkurrenz und den nachlassenden Schutz kollektiver Regelungen vor Augen, grassiert die Angst vor sozialem Statusverlust. Diese Unsicherheit wird unterschiedlich verarbeitet. Je jünger und qualifizierter die Beschäftigten, desto größer ihre Hoffung, den Sprung in eine Normbeschäftigung doch noch zu schaffen. Integration durch Teilhabe wird durch eine schwache, weil im Grunde fiktive Integrationsform ersetzt. Der Traum des Leiharbeiters Stammarbeiter zu werden, geht allenfalls für 15 Prozent der Betroffenen in Erfüllung. Deshalb ist die Integrationskraft des Versprechens auf »Normalisierung« begrenzt. Diejenigen, die der »Schwebelage« über längere Zeiträume hinweg ausgesetzt sind, müssen sich arrangieren. Ihre Energie schwindet, sie schrauben ihre Ansprüche zurück und suchen sich in einem Leben einzurichten, das Planung nur von einem Tag auf den anderen zulässt. Betroffen sind wieder einmal jene, die schon immer zu erheblichen Teilen von Normbeschäftigung ausgeschlossen waren.
Neue Polarisierungen
Aber gibt es nicht Formen flexibler Arbeit, die keinen verunsichernden Charakter besitzen? In der Tat: In der »Zone der Integration« stoßen wir auf jene 10 Prozent Selbstmanager und Kreativarbeiter, die eine flexible Beschäftigung primär als Freiheitsgewinn erleben. Solche Gruppen – Freelancer in der IT-Industrie, Werbefachleute, Medienarbeiter – verfügen meist über Ressourcen und Qualifikationen, die sie von der Sorge um die Subsistenz dauerhaft entlasten. Für die Masse der prekär Beschäftigten aber wird Flexibilisierung zur »Flexploitation« (Bourdieu), zur Überausbeutung infolge von Unsicherheitskonzentration. Der Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern der markgetriebenen Flexibilisierung ist der Umgang mit dem neuen Zeitregime. Marktmechanismen im Inneren der Unternehmen bedeuten in manchen Segmenten tatsächlich den Abschied von monotoner Arbeit. Doch die Zerstörung von Routinen bedeutet auch das Ende eines Regimes der »organisierten Zeit« (Sennett), das vielen ermöglicht hatte, ihr Leben nach dem Laufbahnprinzip zu planen. Wer über entsprechende Ressourcen verfügt, vermag die damit verbundenen Diskontinuitätserfahrungen als Freiheitsgewinn zu entschlüsseln. Die Masse der prekär Beschäftigten muss alle Kraft darauf verwenden, sich über Wasser zu halten.
Für die Prekarisierten büßt abhängige Erwerbsarbeit ihren sozialintegrativen Charakter mehr und mehr ein. Das ist auch für die Integrierten folgenreich. Anders als die Arbeitslosen sind die modernen Prekarier für sie stets präsent. Leiharbeiter führen den Stammbeschäftigten vor Augen, dass man die gleiche Arbeit billiger und unter kaum akzeptablen Bedingungen verrichten kann. Insofern sind die prekär Beschäftigten für die Festangestellten eine ständige Mahnung. Ihre bloße Anwesenheit diszipliniert. Das forciert den Trend zur Produktion gefügiger Arbeitskräfte. Dieser Disziplinierungsmodus ist jedoch kein Sachzwang, der fatalistisch zu akzeptieren wäre. Wirtschaftlich dysfunktionale Effekte der Verunsicherung sind nicht mehr zu übersehen. Es dominiert die Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, so widerwärtig er auch sein mag. Das hat verheerende Auswirkungen auf qualitative Arbeitsansprüche. Auf Seiten der Beschäftigten schwinden die subjektiven Voraussetzungen für Innovationen. Zugleich sinkt die Loyalität gegenüber den Unternehmen, die Motivation leidet und Mängel nehmen zu.
Nicht nur in Produktionsbetrieben wie der Autoindustrie, auch in sensiblen Sektoren wie Erziehung und Pflege und selbst in den Infocom-Industrien ist eine Re- Standardisierung von Arbeit im Gange, die Entscheidungsspielräume und Entfaltungsmöglichkeiten reduziert. Lässt sich diese problematische Entwicklung zumindest auf längere Sicht umkehren? Die Diskussion über eine »Politik der Entprekarisierung« (Mindestlohn, Selbstorganisation der »Unorganisierbaren«, Grundeinkommen) deutet an, dass Abwärtsspiralen Grenzen gesetzt werden können. Ein umfassendes Konzept zur Re-Humanisierung der neuen Arbeitswelt bieten solche »Haltelinien nach unten« aber nicht. Vielleicht gilt es zunächst, den Eigensinn der Arbeit wieder zu entdecken. So ist die Befriedigung, die von einem handwerklich gelungenen, mit Kreativität entwickelten Produkt ausgeht, kaum zu übertreffen. Möglicherweise bietet die Politisierung dieser – aus der Perspektive einer Mehrzahl der Arbeitenden – Verlusterfahrung einen Ansatzpunkt für widerständige Praktiken, ohne die eine humane Wideraneignung der neuen Arbeitswelt nicht möglich ist.