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polar #4: Über Arbeiten



Editorial

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



ANSCHLUSS

 
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Die Hölle, das ist ohne die Anderen
Tätigkeit und sozialer Sinn in politischen Diskursen
 
Axel Honneth
Arbeit und Anerkennung
Versuch einer Neubestimmung
 
Anton Leist
Ausstieg oder Ausbildung
Ein Vorschlag zur Arbeitsgesellschaft jenseits von Marx und Gorz
 
Birger P. Priddat
Wert, Kompetenz, Kommunikation, Spiel
Elemente einer modernen Theorie der Arbeit
 
Chrisitan Neuhäuser
Was machen Sie eigentlich so?
Arbeit, Arbeitslosigkeit und Würde
 
Neue Deutsche Sprachkritik
>Was bin ich?<
Der wahre Text
 
Nina Apin
Tren Blanco – Der Weiße Zug
Die Müllsammler von Buenos Aires
 
»Menschen mit schmutzigen Händen«
Interview mit Ali Witwit
 
Christophe Dejours
Suizid am Arbeitsplatz
Zur Psychopathologie der modernen Arbeitswelt
 
Aram Lintzel
Sinncontainer
>Debatte<
 
 

»Die neue Verwundbarkeit«

Interview mit Robert Castel


Wie sich die Arbeitswelt transformiert, was den dominanten Markt domestiziert, vor welchen Herausforderungen soziale Sicherungen stehen und warum das Grundeinkommen ideologisch ist - ein Interview mit ROBERT CASTEL.

polar: Sie kritisieren den Begriff »soziale Ausgrenzung« (exclusion). Wieso?

Castel: Der Begriff ist eine Art Kofferwort, das ein breites Spektrum sozialer Situationen abdeckt, ohne etwas Präzises zu bezeichnen, allerhöchstens etwas Negatives. »Ausgegrenzte« wären dann, mit Touraine gesprochen, Menschen, die »out« sind, die sich in einer »außersozialen« Situation befinden. Diese negative Charakterisierung über den Bruch sozialer Bindungen efolgt ohne Verweis auf die Situationen, die die Ausgrenzung produzieren. Eine soziologische oder politologische Analyse muss hingegen nachzeichnen, wie es zu dieser Art von Grenzsituationen gekommen ist. Situationen der Ausgrenzung entstehen in großem Ausmaß durch die Funktionsweise der Unternehmen, die das Herz unserer Gesellschaft bilden. Diese Dynamiken lassen sich besser mit dem weniger statischen Terminus der »Entkoppelung« (désafilliation) erfassen.

polar: Das Organisationsprinzip unserer Gesellschaft selbst führt also dazu, dass einige außerhalb der Gesellschaft in einer asozialen Position leben?

Castel: Genau. Aber es gibt natürlich auch Situationen des Übergangs. Wir müssen die neue Verwundbarkeit in den Blick bekommen, in denen sich Menschen befinden, die noch nicht »unnütz« geworden sind, aber in einer Situation der permanenten Instabilität leben. Metaphorisch gesprochen gibt es Zonen des sozialen Lebens: Menschen, die noch integriert, die verwundbar und die entkoppelt sind. Diese sozialen Positionen muss man als Kontinuum begreifen.

polar: Die Geschichte dieser verwundbaren Positionen haben Sie vom Vagabunden des Mittelalters bis zum heutigen Überzähligen nachgezeichnet. Unterscheiden sich alte und neue soziale Fragen? Haben wir nichts gelernt?

Castel: Soziologie zu betreiben heißt für mich, wie bei Foucault, aufzuweisen, wie sich Probleme transformieren. Das bedeutet nicht, dass Geschichte sich wiederholt, im Gegenteil. Ich betreibe eine Art Geschichte der Gegenwart: die heutige Lage wird als Ergebnis einer Serie von geschichtlichen Transformationen betrachtet. Soziologie ist der Versuch, zu verstehen, was sich heute ereignet, hier und jetzt. Die Leute, die man früher »das Volk« nannte, lebten von einem Tag zum nächsten. Die gegenwärtige Prekarität hat etwas strukturell Gleiches und doch vollkommen Verschiedenes. In Deutschland ebenso wie in Frankreich, besteht eine Prekarität »nach der Absicherung« durch einen Sozialstaat mit einem Arbeitsrecht und sozialen Sicherungen. Gerade diese Sicherungen zerbröckeln gegenwärtig. Bei der Geschichtsschreibung geht es also nicht um Wiederholungen, sondern um Transformationen.

polar: Der Sozialstaat löst für Sie einen Antagonismus, der für die Gesellschaften zu Beginn der Industrialisierung hoch riskant war: den zwischen Arbeit und Besitz oder Sozialismus und Neoliberalismus. Nach dem Fall der Mauer ist letzterer ohne Gegenpart geblieben. Kann sich die sozial-demokratische Alternative in diesem neuen Kontext noch behaupten?

Castel: Der soziale Kompromiss, der die Lohnarbeitsgesellschaft erzeugt, bildete sich als Produkt vieler Konflikte über 100 Jahre hinweg. Den neuen Kapitalismus, der sich gegenwärtig verbreitet, charakterisiert eine besondere Art der Mobilisierung. Er fordert sowohl größere Mobilität als auch Individualisierung. Das System kollektiver Sicherungen einfach zu bewahren, wäre deshalb sicherlich ein utopisches Anliegen im schlechten Sinne. Die Herausforderung besteht darin, zu versuchen, diese Garantien, Sicherheiten und Schutzmaßnahmen in unserem gegenwärtigen mobileren Kontext neu zu entwickeln. Wir müssen den Markt, der immerhin der größte Motor dieser Individualisierungsprozesse ist, domestizieren. Wie kann man dem unumgänglichen Markt kollektive Regulierungen auferlegen? Dass ein Arbeiter den Arbeitsplatz wechseln, sich umschulen, weiterbilden und auf dem Stand der Technik halten muss, ist an sich nicht skandalös. Aber es gilt zu verhindern, dass diese neuen Anforderungen zu einem Statusverlust oder zu einer völligen Entwertung führen.

polar: Verteidiger des Neoliberalismus entgegnen, der Abbau des Sozialstaates sei im Interesse aller Betroffenen: niedrigere Steuerbelastungen bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung von Verwaltung und Arbeitsvermittlung. Das berührt direkt Ihre Idee kollektiven Eigentums als Instrument solidarischer Umverteilungen.

Castel: Der autoregulierte Markt im Sinne Polanyis, der nur seinen eigenen Ansprüchen genügt, kann keine Gesellschaft im starken Sinne des Wortes bilden. Er atomisiert die Individuen, separiert sie in Gewinner und Verlierer. Dagegen verteidige ich ein anderes Gesellschaftsmodell, das auf normativen Entscheidungen beruht, einer Vorstellung von sozialem Zusammenhalt und der relativen Unterordnung partikularer Interessen unter das Allgemeininteresse. Für mich ist eine Gesellschaft, in der man gut leben kann, eine, in der die Menschen durch Beziehungen der Interdependenz, durch Formen der Reziprozität aneinander gebunden sind. Das läuft nicht auf einen absoluten Egalitarismus hinaus, wohl aber darauf, dass jedes Gesellschaftsmitglied über ein Minimum an Ressourcen verfügt, um mit den anderen eine »Gesellschaft zu bilden« und nicht aus ihr ausgeschlossen zu sein.

polar: Gegenwärtig werden neue Modelle der Entlohnung und sozialen Sicherung diskutiert, bei denen der Arbeitnehmer nicht mehr anteilig in die kollektiven Sicherungssysteme einbezahlt, sondern einen Teil des Einkommens in Form von Wertpapieren erhält und sich individuell versichert. Was halten Sie von einer solchen›Shareholder Society‹?

Castel: Derzeit findet eine gefährliche Verschiebung der sozialen Sicherungen statt, die auch den Begriff der Solidarität transformiert. Sicherung und Solidarität werden nur noch für die am schlechtesten Gestellten vorgesehen. Unsere Gesellschaft ist noch nicht so verroht, dass wir Menschen verhungern lassen würden. Für die Bedüftigsten wird es auch künftig Hilfeleistungen geben. Der Idee der sozialen Sicherungen ging es aber darum, wenigstens über Mindestbedingungen für eine soziale Bürgerschaft zu verfügen. Irreversible Veränderungen des sozialen Zusammenlebens fordern Reformen, durch die Mobilitätsanforderungen und sozialer Status miteinander vereinbart werden. Die Lösung kann aber nicht darin bestehen, unter dem Deckmantel der Modernität nur regressive Maßnahmen zu ergreifen wie zum Beispiel die Wiederentdeckung des Eigentums.

polar: Das Modell des Grundeinkommens nimmt Abstand von der Arbeit als der maßgeblichen sozialintegrativen Komponente. Gibt es für Sie eine Alternative zur Lohnarbeitsgesellschaft?

Castel: In unseren Gesellschaften bestimmt sich das soziale Schicksal der Menschen hauptsächlich durch die Arbeit. Der leicht debile Diskurs über das Ende der Arbeit ist zum Glück wieder etwas abgeebbt. Die Ideologen, die meinen, die Arbeit hätte ihre Bedeutung verloren, verwechseln die zunehmende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse mit Massenarbeitslosigkeit. Arbeit zu sichern, bleibt ein zentrales Ziel, das interessante Experimente an Rändern und in Zwischenräumen unserer Gesellschaft nicht ausschließt. Wir sind immer noch in der Moderne und nicht in der Postmoderne. Die moderne Gesellschaft steht auf zwei Pfeilern: Arbeit und Markt. Die zentrale Herausforderung liegt darin, die Sicherung der Arbeit und die Domestizierung des Marktes voranzutreiben. Die Idee des Grundeinkommens ist problematisch, weil sie die Entkoppelung von Arbeit und sozialen Sicherungen akzeptiert. Die meisten Vorschläge gehen zudem davon aus, dass die Bezieher des Grundeinkommens irgendeine Arbeit als Gegenleistung erbringen müssen. Annehmbar wären diese Vorschläge nur, wenn man erhalten würde, was André Gorz ein ausreichendes Einkommen nennt. Gegenwärtig sehe ich die politischen Umsetzungsbedingungen für solche Maßnahmen nicht. Das Grundeinkommen ist deshalb ideologisch.

Das Gespräch führten Nadia Mazouz und Regina Kreide.



 
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