polar #19: Krieg und Frieden
EDITORIAL
INTERVENTION
INVENTUR
Rebecca Harms Ukraine, 19. bis 21. Februar 2015 Ein Reisebericht
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Matthias Schaffrick/Thomas Weitin/Niels WerberNicht Krieg, nicht FriedenPostsouveränes Erzählen und Gegenwartsliteratur | Ciceros alte Formel vom »inter pacem et bellum nihil medium« stellt sich die Welt so vor, ›wie wir als Kinder dachten, dass sie sei‹: Entweder Krieg oder Frieden. Aber so funktioniert es nicht mehr. In Zeiten neuer, asymmetrischer Kriege, nicht-staatlicher Akteure, humanitärer Interventionen, williger Koalitionen und preemptive actions stehen gewaltsame Konflikte auf der Tagesordnung, die die Logik von Krieg und Frieden, Freund und Feind außer Kraft setzen. In literarischen Texten, die von diesem unbestimmten Zustand dazwischen, von Nicht-Krieg und Nicht-Frieden handeln, lässt sich heute ein postsouveränes Erzählen beobachten. HOLM Völkerrecht! BERDOA Das kenn ich schlecht! (C. D. Grabbe: Herzog Theodor von Gothland)
Das Erzählen verspricht Orientierung in einer unübersichtlichen und komplexen Welt. Anfang und Ende, die motivierte Verknüpfung von Ereignissen, Einsicht in das Handeln der Akteure und ein Überblick über räumliche Verhältnisse und zeitliche Zusammenhänge kennzeichnen klassische Erzählungen. »aber überblick gibt's doch nicht« ist der Befund der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, jedenfalls der von Kathrin Röggla in ihrer überaus reflektierten und ästhetisierten 9/11-Dokumentation really ground zero. Rögglas Bericht erfasst die Renormalisierungsversuche nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 durch Konsumismus (Rudolph Giuliani: Show you are not afraid! Go shopping!) oder die Ausrufung eines neuen Ausnahmezustandes (George W. Bush: War on Terror). really ground zero führt vor allem die rhetorischen Strategien und die Begriffspolitik im Ausnahmezustand 9/11 vor Augen. »begriffe schliddern, alleine der des ›krieges‹, [...] begriffsverschiebungen«.
Mit dieser Diagnose, ›Begriffsverschiebungen‹, hat die erzählende Literatur umzugehen. Sie nutzt Verschiebungen und Auflösungen von Begriffen als poetischen Antrieb und macht sie sichtbar, indem sie klassische Unterscheidungen und das Denken leitende Dichotomien umcodiert und entdifferenziert, überschreibt, umwertet und neu konfiguriert. Besonders der Begriff des Krieges, so lautet nicht nur Rögglas Befund, sei von Verschiebungen, Verwirrungen und Umdeutungen betroffen und wäre damit literarisch interessant. Daher nimmt das Erzählen semantische Oppositionspaare wie Krieg und Frieden, Freund und Feind, Ausnahme- und Normalzustand, Recht und Unrecht, Innen und Außen, Anfang und Ende, mit denen wir unsere Wirklichkeit modellieren, zum Ausgangspunkt, um sie neu zu begreifen. Erzählend werden ihre Tragfähigkeit und Brauchbarkeit für die Beobachtungen und kulturellen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, in der wir leben, untersucht.
Nur noch ›rührend‹ sei »diese Suche nach einer klaren Einteilung der Welt, nach Gut und Böse, Links und Rechts, Feind und Freund«, konstatiert die Erzählerin in Sibylle Bergs Weltauflösungsroman Ende gut. »So, wie wir als Kinder dachten, daß die Welt sei.« Katastrophen, Kriege, Terroranschläge, Epidemien sammelt sie auf ihren Informationshaufen, die keine Narrationen ermöglichen, sondern nur noch Listen, also reine Paradigmen, von katastrophalen Ereignissen darstellen, die niemand mehr zu syntagmatisieren vermag, weil niemand Zusammenhänge herstellen und Reihenfolgen begründen kann. Mit dem Zerfall der Weltordnung zerfällt auch die Ordnung des Narrativs. »Es gibt: Keinen Anfang und kein Ende. Keine Konturen.« Das ist der Befund der Gegenwartsliteratur: Begriffsverschiebungen, Entdifferenzierungen und mangelnde Orientierungskraft von Erzählungen. Das bedeutet aber keineswegs das Ende des Erzählens, sondern führt zu einer Renaissance von Erzählverfahren, die sich in der klassischen Moderne etabliert haben und das konventionell realistische Erzählen an die Grenzen der Erzählbarkeit und der traditionell auktorialen Souveränität samt Überblick und Allwissenheit führen. Postsouveränes Erzählen erfasst die rechtliche Unentschiedenheit und politische Destabilisierung nicht nur auf der Ebene der erzählten Welt, sondern auch auf der Ebene der Erzählverfahren. Die Welt ist nicht nur unbeobachtbar, wie Niklas Luhmann stets betonte, sondern auch unerzählbar. [...]
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