





polar #14: Sex und Befreiung
EDITORIAL
ERWIDERUNG
ERREGUNG
EMANZIPATION
Mark GreifIm Hochsommer der SexkinderPlädoyer für die Wiederentdeckung des Erwachsenseins | Vor Kurzem führte ich eines jener Gespräche, die man nicht führen sollte. Es ging um die Frage, ob Vladimir Nabokov, der Autor von Lolita, tatsächlich minderjährige Mädchen begehrte oder nicht. Die üblichen Argumente wurden vorgebracht: Nabokov sei ein Meister des Rollenspiels gewesen und Humbert Humbert nichts als eine Spielerei für ihn. Man käme doch auch niemals wegen Kinbote – der Erzählerfigur in Fahles Feuer – auf den Gedanken, Nabokov könne Jungen geliebt haben. In seinen späten Romanen habe Nabokov mittels allegorischer Verfahren jene ästhetizistischen Verführungen beschrieben, die das Verbotene zum Schönen verklären; es handle sich um moralische Sittengemälde, die zeigen sollen, dass wir das Verbrechen akzeptieren, wenn es nur verführerisch genug dargestellt wird. Das falsche Objekt zu lieben, würde auf diese Weise zu einer Metapher für Kunst, für Ethik, für Persönlichkeit und so fort.
Widerwillig warf ich ein, mir erschienen solche Erklärungen als unzureichend, ja geradezu bösartig. Lolita bereitet uns nur deshalb solche Schwierigkeiten, weil das Buch tatsächlich zu beschreiben in der Lage ist, wie eine Zwölfjährige als Sexobjekt aussieht. Wie ihr Kleid über ihre Knie streift. Wie ihre Zehen mit lackierten Nägeln aussehen. Wie die Farbe auf dem vollen Bogen ihrer Lippen liegt. Man sagt von solcherlei Darstellungen, sie seien »zu echt«, und das allein ist das Skandalöse. Das gilt auch noch fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans, und darin wird auch in Zukunft das eigentlich Anstößige bestehen, wann immer ein Erwachsener sich eingesteht, dass es dem Buch gelingt, seine Vorstellungskraft derart auf den Kopf zu stellen, dass er ein Kind, ein menschliches Wesen also, das sich noch im beschützten Larvenstadium des Organismus befindet, als sexualisiertes Objekt wahrnimmt. Das Mädchen ist nach wie vor ein Kind. Es ist jetzt allerdings ein Sexkind. Doch genau deshalb glaube ich nicht, dass Nabokov ein Pädophiler war, sondern vielmehr etwas, was man mit ihm eigentlich nicht in Verbindung bringt: ein Gesellschaftskritiker.
Eigentlich sollten auch Sie das so sehen, und vielleicht tun Sie es ja ohnehin schon. Die letzten 50 Jahre haben uns immer dort eine sexualisierte Jugendlichkeit entdecken lassen, wo sie nicht existierte, und sie haben sie uns dort ignorieren lassen, wo es sie gab. Wir Erwachsenen projizieren die Sexualität von Kindern auf unsere eigene Lust oder betrachten Kinder unter Vergrößerungsgläsern, um ganz sicherzugehen, dass sie auch ja keinerlei Reize auf uns ausüben. Doch mit der Zeit sind diese Linsen zu Brenngläsern geworden. Betty Grables Hüften schmolzen dahin. Marilyn Monroes Brüste zerliefen und wurden durch Silikon ersetzt. Als die T-Shirts bauchfrei wurden und die Hosen soweit nach unten rutschten, dass man die Slips sehen konnte, schuf die Modegeografie neue erogene Zonen für Schlankheitsfanatiker, die sich ihre sekundären Geschlechtsmerkmale abhungern wollen, und für Teenager an der Schnittstelle zwischen sportlichen Frauen und pubertierenden Kindern. Das abgemagerte Model und die Elfe wurden idealisiert. Vor dem Schlafzimmerspiegel sehen Mama und Tochter wieder genau gleich aus. Diesmal jedoch haben sie sich nicht mit Mamas Perlen und Stöckelschuhen herausgeputzt, sondern mit Kinderkleidung. Man träumt davon, wieder sechzehn zu sein. [...]
|

| Susann Neuenfeldt/Simon Strick Hallo Rom/Hallo Karthago: >Nacht für Nacht<
| Martin Saar >SeXXX!<
| Ina Kerner Leben im Kapitalismus: >Jyoti Singh und der Feminismus in Indien<
|
SCHÖNHEITEN
Franziska Humphreys Diskursive Explosionen Die ewigen Spiralen von Lust und Macht: Michel Foucaults Geschichte der Sexualität
| Johannes Kleinbeck Nähren und Annähern Absolute Vereinigung? »Liebesjubel« in Richard Wagners Siegfried
| Leo Lencsés Dramatische Verknappung Der Koitus als vierte Dimension: Zur Malerei von William N. Copley
| Jan Engelmann Schöne Aussichten Sexuelle Deutungsmuster: Wie HBO zeigt, was wir alles wissen wollen
| Anna-Catharina Gebbers Unperfekt Nach der Pornowelle: Die Fotos von Heji Shin in MAKE LOVE
| Lydia Hibbeln Grausame Schönheit Liebe zum Körper: Jacques Audiards Der Geschmack von Rost und Knochen
| Arnd Pollmann Flotter Vierer Sublimierung auf höchstem Niveau: Das literarische Quartett
| Anna-Katharina Meßmer Fickt euch Dann gleich Kristina Schröder: Catherine Hakims Erotisches Kapital
| Elias Kreuzmair Bößer Spaß Wo fängt Macht an? Blumfelds Lass uns nicht von Sex reden
| Daniel Herleth Teil des Kalküls Vielleicht die letzte Chance: Paul Schraders The Canyons
|
|

nach oben

|
|
 |
|