Menschen haben Sex. Dies ist ein Satz, der, soviel Evidenz er auch auf den ersten Blick zu beanspruchen scheint, immer fragwürdiger wird, je länger man auf ihn schaut. Ist es nicht eigentlich seltsam, dass Wesen, die auf zwei Beinen gehen, Kleidung tragen, über Sprache verfügen, mit Messer und Gabel essen, E-Mails schreiben, Smartphones bedienen und am Sonntag Nachmittag bei einer Tasse Tee das Feuilleton lesen, sich dann und wann ihre durchaus nicht geruchsarmen und auch nicht sonderlich ansehnlichen Geschlechtsteile zur Begattung hinrecken? »Ich schau mir das lieber bei einem Hund an«, so sagte der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard einmal. Wäre es nicht tatsächlich möglich, dass dem Menschen der Geschlechtsakt immer suspekter wird, je weiter er sich entwickelt? Zumal dieser Akt mit dem Erhalt der Gattung ja keineswegs mehr in notwendiger Beziehung steht. Die Pille hat den Sex von der Fortpflanzung abgekoppelt, die Reproduktionsmedizin später dann umgekehrt die Fortpflanzung vom Sex: Im 21. Jahrhundert müssen Menschen nicht mehr miteinander schlafen, um Nachkommen zu zeugen, und es wäre zumindest vorstellbar, dass die Technik den Koitus früher oder später vollständig ersetzt.
Könnte es also sein, dass der Mensch den Sex irgendwann überwunden haben wird? Dass er ihn hinter sich lässt wie vor Jahrmillionen Reißzähne und Fell? »Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer beschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiß und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen«, ist in Sigmund Freuds Das Unbehagen in der Kultur zu lesen. »Man hat wahrscheinlich ein Recht anzunehmen, daß seine Bedeutung als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszweckes, empfindlich nachgelassen hat.«
Das ist zugegebenermaßen eine steile These. Ja, es ist noch nicht einmal eine These, sondern, daraus macht Freud keinen Hehl, eine Spekulation, die natürlich sofort Widerspruch hervorruft: Das Sexualleben des Menschen soll evolutionärer Abfall sein? Ist Freud nicht das Kind einer Zeit, in der die kulturelle Sexualmoral so streng war, dass schon allein der Gedanke an Sex mit gnadenlosen Gewissensbissen bestraft wurde? Tatsächlich leben wir doch heute in einer ganz anderen Gesellschaft: Vierzig Jahre nach der sexuellen Revolution, die Freud nicht mehr miterlebt hat, gibt es keinen Kuppeleiparagrafen mehr, und der Ausdruck »vorehelicher Sex« zaubert Pubertierenden heute höchstens noch ein Grinsen ins Gesicht. Im Kino werden erigierte Geschlechtsteile mit einer Selbstverständlichkeit gezeigt wie in den 1950ern Knie. Pornodarstellerinnen treten in Talkshows auf, Edel-Sexshops befinden sich hell ausgeleuchtet in bester City-Lage. Kurz und gut: Die sexuelle Liberalisierung, oder, weniger wohlwollend ausgedrückt, die gesellschaftliche Pornografisierung, ist doch wohl das schlagende Argument gegen Freuds Behauptung! Sind wir nicht heute, was den Sex angeht, so frei und, möchte man doch meinen, entsprechend auch so aktiv wie nie zuvor? [...]
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