Oftmals ist Justitia mit Augenbinde, Waage und Schwert dargestellt – je nach Darstellung mehr oder weniger deutlich als weibliche Gestalt erkennbar, mehr oder weniger sexy. Dabei soll die Gerechtigkeit unparteilich sein, zwischen Recht und Unrecht abwägen und dann ein Urteil fällen. Liebe und Sex gehören zum guten Leben; in einer liberalen Gesellschaft haben alle ein individuelles Recht darauf, sie auszuleben. Der Rechtsstaat ermöglicht dies, indem er einerseits die hetero- oder homosexuellen Realisierungsmöglichkeiten des guten Lebens schützt, andererseits, indem er individuelle Rechte vor den Übergriffen durch andere absichert. Der Rest ergibt sich – Liebe kann, wie schon Kant wusste, nicht geboten werden, Justitia sind hier die Hände gebunden, sie würde der individuellen Freiheit nicht gerecht, wenn sie in die Verteilung von Liebe und körperlicher Anziehungskraft eingreifen würde. John Rawls wollte die »Willkür der Welt« in Bezug auf die ungleiche Verteilung von Fähigkeiten und Begabungen zugunsten der Schlechtestgestellten zurechtrücken. In Bezug auf Einkommen und Vermögen ist das sinnvoll, doch in Bezug auf die Sexualität könnte die Justitia mit ihrem Schwert dem Eros zu nahe rücken. Hier steckt sie nur die Grenzen ab, innerhalb derer der launische und parteiische Eros seine Pfeile herum- und manchmal über das Ziel hinausschießt. Corinna Mieth
Guter Sex basiert auf dem Prinzip »Geben und Nehmen«. Aber das ist auch schon alles, was man über die Frage, was Sex mit Gerechtigkeit zu tun hat, sagen kann. Ansonsten ist guter Sex: leidenschaftlich, stürmisch, berauschend, wild, heiß, scharf, unbeherrscht, mal zart, mal heftig, keusch oder auch schmutzig, mal rein, mal raus, überirdisch und doch von dieser Welt, real, fühlbar, hörbar, sichtbar, aber doch nicht öffentlich, meist sehr intim, kaum rechtfertigungsbedürftig, jedoch zwingend, wenig berechenbar, überraschend, bisweilen spannend, immer auch unverfügbar, ausgelassen, unverkniffen, ungehemmt, leicht, locker, lässig, unterhaltsam und gelegentlich sogar albern, niemals aussichtslos oder umsonst, aber doch gesellschaftlich unnütz, ja, überflüssig, am Ende meist entspannend, befriedigend und manchmal sogar ausreichend. Kurz: Guter Sex ist das Andere der Gerechtigkeit. Arnd Pollmann
In Nr. 104 seiner »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« (»Golden Gate«) spricht Adorno vom paradoxen Bewusstsein »des unveräußerlichen und unklagbaren Menschenrechts, von der Geliebten geliebt zu werden.« Es ließe sich nur durch seine eigene Aufhebung realisieren. »Das Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet.« Aber wie etwas aufheben, was uns anscheinend vollkommen durchdringt? Auch wenn die Liebe glücklich erwidert wird, wuchert das Recht heimlich weiter und sperrt sich gegen seine Aufhebung. Und Sexualität scheint eine der wichtigsten Sachen (»res«) zu sein, auf die sich das paradoxe Recht der Liebe richtet. »Ich liebe dich und erwarte dafür nichts!« – Wirklich nicht? Spätestens im Scheidungsverfahren wird dann die noch offene Rechnung präsentiert und Ausgleich gefordert. Und schließlich wäre noch zu sprechen von den nicht ein oder wenige Male, sondern immer und erneut Zurückgewiesenen, denen keine Liebe erwidert wird und die mit ihrer Sexualität allein bleiben müssen. Ziehen sie eine innere »Bilanz« von Geben und Nehmen? Wurde ihnen unrecht getan? Niemand weiß es, niemand will es wissen. Sind die verqueren Ansprüche, Ungleichgewichte, Disproportionalitäten, Ausgleichsbedürftigkeiten, Schädigungen, Restitutionen und Kompensationen vielleicht gar der heimliche und geheime Ursprung der Gerechtigkeit und des Rechts? Klaus Günther
Sex ist für viele Menschen ein wertvolles Gut – nicht nur als Grundbedürfnis, sondern als formbare Kraft der Liebe. Sex mag zunächst so profan sein, wie ein unbehauener Stein, aber er ist zugleich der Stoff für die unglaublichsten performativen Kunstwerke der liebenden Zuwendung. Diese können romantisch sein, aber genauso: krass, erschütternd oder euphorisch. Warum wird ausgerechnet dieses Gut so selbstverständlich von Gerechtigkeitsüberlegungen ausgenommen? So richtig es ist, in der sexualisierten Gesellschaft die Möglichkeit der Asexualität zu verteidigen, so offenkundig ist, dass viele Menschen nicht nur unter der Unmöglichkeit von Sex leiden, sondern diese auch als zutiefst ungerecht empfinden. Ein falsches Gerechtigkeitsverständnis? Wenn Gerechtigkeit für moralische Ansprüche steht: ja. Liebe lässt sich nicht erzwingen. Und wenn Sex für sie eine elementare Kraft ist, dann steht auch Sex als Gut der Distribution nicht zur Verfügung. Die Behauptung eines moralischen (Gerechtigkeits-)Anspruchs auf Sex wäre die Rechtfertigung von Vergewaltigung. Einen Anspruch auf Sex haben deshalb nicht mal die gegenseitig Liebenden selbst. Über den Einsatz dieser auch verletzenden und verletzbaren Kraft darf nur im Einvernehmen entscheiden werden. Wenn sie den Liebenden bereit steht wäre es allerdings sehr schade, sie nicht zu ver(sch)wenden. In diesem Sinn stimmt es dann doch auch hier: »Feinen Menschen muss man geben was sie wünschen es ist eben eine Pflicht.« (Alles Gute zum 20.) Peter Siller
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