Liebe Leserin, Lieber Leser,
Freundschaft, klar. Dazu hat jeder was zu sagen. Dachten wir. Seltsamerweise fühlte sich unsere redaktionelle Arbeit dann aber an wie eine Expedition in weitgehend unerforschtes Gelände. Angesichts ihrer alltäglichen und gesellschaftlichen Bedeutung überrascht es, wie wenig Freundschaft Gegenstand von Reflexion oder politischer Debatte ist. Als wolle man ihre Intimität nicht durch das öffentliche Wort gefährden. Doch Freundschaft verdient lautes Nachdenken.
Was ist Freundschaft? Welche Erfahrungen, Erwartungen und gesellschaftlichen Funktionen sind mit ihr verbunden? Was könnte Freundschaft sein? Ohne Grund? Privates Rückzugsgebiet aus einer Welt der Zwecke und Zwänge? Neue Solidarstruktur, die zunehmend alte Ordnungen wechselseitiger Hilfeleistungen ersetzt? Oder doch gleich Netzwerk?
Am Beginn des Heftes stehen analytische Annäherungen an einen komplexen Begriff. Georg W. Bertram beschreibt Freundschaft als genuin soziales Verhältnis (S. 7), Peter Siller erörtert die gesellschaftliche Irritation ihres intrinsischen Charakters (S. 15) und die Psychologin Ann Elisabeth Auhagen sieht ihr wesentliches Merkmal darin, dass es für sie keine allgemeinen Regeln und Pflichten gibt (S. 20).
Wo klassische Sozialstrukturen fragiler werden und die Mobilität zunimmt, werden Freundschaften umso wichtiger. Janosch Schobin vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Kai Marquardsen erkunden die soziale Funktion von Freundschaft unter der Bedingung von Arbeitslosigkeit (S. 117). Und während es dem Autor Martin Hecht gerade darum geht, Freundschaft aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten (S. 27), sieht die Politikwissenschaftlerin Danielle Allen aus Princeton in der politischen Freundschaft einen Modus, in dem sich alle Bürgerinnen und Bürger begegnen sollten (S. 94). Brauchen wir vielleicht gar ein Rechtsinstitut der Freundschaft (S. 39)? Jedenfalls kann sie nach vielfacher Ansicht die Grenze der menschlichen Spezies überwinden. Hilal Sezgin geht der vertrackten Frage nach, ob man befreundete Schafe schlachten darf (S. 56).
Freundschaft beschränkt sich nicht auf einzelne Kulturen. Freundschaft überschreitet Ländergrenzen, spielt in der ganzen Welt. Taugt Freundschaft zur Beschreibung internationaler Beziehungen (S. 45)? Die Reportage von Julien Lennert beschreibt die Ambivalenzen des panarabischen Freundschafts-Ideals am Beispiel der Flüchtlingspolitik Syriens (S. 48).
Auch in der Politik der Berliner Republik wimmelt es von »Freunden«. Meist nennen sie sich Netzwerker. Der fast sprichwörtliche rheinländische Klüngel etwa wirft Fragen auf nach Chancen und Risiken einer Politik der Freundschaft (S. 73). Wie funktionieren überhaupt politische Freundschaften? Vincenz Leuschner reflektiert deren Handlungsrationalität (S. 79). Michael Miebach (S. 85) und Jan Philipp Albrecht (S. 91) fügen Erfahrung aus der politischen Praxis hinzu. Das Netzwerk verwischt die Grenze zwischen Geschäftsbeziehung und Freundschaft. Netzwerke verbinden nicht nur, sondern schließen auch aus. Wer nicht mitmacht oder einfach auch nur nicht dabei ist, braucht mit Unterstützung nicht zu rechnen.
Das gilt nicht nur für die politischen Milieus, sondern ebenso für die Kunst- und Wissenschaftsszenen. Gerade der Kampf um knappe Fördermittel und Schauplätze tobt in der zwischenmenschlichen Grauzone. Arnd Pollmann etwa bezweifelt, dass ein eigenbrötlerisches Genie wie Ludwig Wittgenstein im heutigen akademischen Betrieb eine Chance hätte (S. 101). Ohne Netzwerk keine Professur, kein Verlag, keine Resonanz. Auch die Medienwelt tickt da nicht anders. Zwischen der Freundschaft junger Journalistinnen (S. 111) und weiblicher Bündnispolitik (S. 105) kann dann nur ein kleiner Schritt liegen.
Der Schriftsteller Michael Lentz berichtet im Interview nicht nur von Dichter-Freundschaften, sondern auch von Rivalitäten, Mobbing und Karrierekämpfen in einem Betrieb, wo hochindividualisierte Kreativität auf die profitorientierten Gesetze des Buchmarktes trifft (S. 150). Und Bernadette La Hengst beschreibt den Zusammenhang Freundschaft, Liebe und Politik mit Blick auf ihre eigene Entwicklung als Musikerin (S. 169). Ein wirklich nicht am Profit orientiertes Kunstnetzwerk eröffnet die Künstlerin Maria Papadimitriou mit ihren Temporary Museum For All (S. 136). In einem heruntergekommenen Vorort Athens entsteht eine Lebensgemeinschaft zwischen nur temporär sesshaften Einwohnern, Künstlern und Kunstinteressierten.
Durch das ganze Heft zieht sich die schwarz-weiße Fotoserie »Decoration« von Tomoko Sawada. Die Künstlerin karrikiert die Eigenart japanischer Mädchen, ihre Kleidung bis ins Dekorative auf die Freundin abzustimmen, um wie Zwillinge zu wirken. Sawadas Technik durchgehender Selbstportraits illustriert dabei eindrücklich die mögliche Kluft zwischen äußerer Erscheinung und innerer Realität von Freundschaft.
Wir sind froh, uns mit der fünften Ausgabe auf das Abenteuer dieser Thematik eingelassen zu haben.
Freunde?
Für die Redaktion
Peter Siller, Bertram Keller