Lasst uns alle Freunde sein! Dies könnte das Motto von Ehssan Dariani sein, einem der Mitbegründer von StudiVZ. Denn er selbst verzeichnet 831 »Freunde« in seiner Freundesliste, die für alle zirka 5 Millionen StudiVZ-Nutzerinnen und -Nutzer sichtbar ist. Sind diese »Freunde« mehr als bloßes Kapital?
Große »Freundeskreise« sind im Internet nichts Ungewöhnliches. Sie lassen sich aufbauen oder entstehen beim Surfen durch unzählige Nutzerprofile und Foren auf Plattformen wie StudiVZ. Dort werden die Namen oder Fotos registrierter Nutzerinnen und Nutzer angeklickt, um sie »als Freund« einzuladen. Über die Annahme der Offerte entscheidet dann ein bestätigender Klick der eingeladenen Person. Beide Freundeslisten werden auf diesem Wege um einen »Freund« erweitert. Deshalb fallen die Klicks umso leichter, je mehr die bloße Zahl an Kontakten unter den Nutzern als Indikator für die erlangte Aufmerksamkeit oder Berühmtheit gilt. Die so eingegangenen Verbindungen jedoch, sofern ihnen überhaupt mehr als ein nomineller Wert zukommt, beschränken sich zumeist auf das sporadische Beäugen von Profilentwicklungen bei der jeweils anderen Person.
Nur wenige Mausklicks entfernt, auf »myspace.com: a place for friends«, finden wir eine andere Variante des sozialen Wettspiels »Wer hat die meisten Freunde?«. »Dee« steht auf der Startseite als eine von drei »Cool New People« und ist nicht zu übersehen. Zwar lenken zwei animierte Werbungen für kommerzielle Musik-events ein wenig ab, doch lässt die angewöhnte Banner-Blindheit unseren Blick schnell an andere Stellen wandern: Den Kampf um Aufmerksamkeit gewinnt »Dee« durch ihr Foto, das nicht nur dreimal so groß ist, wie das ihrer Mitbewerber »Bradley« und »Johnny«, sondern zudem eine attraktive junge Frau mit Abendmakeup zeigt, deren tief dekolletiertes Top viel nackte Haut freigibt. Ein Mausklick darauf verrät die Zahl ihrer Freunde: »Dee has 5529 friends«. Doch welche Art von Beziehung pflegt sie zu ihren Freunden?
In den 30 Zeilen Selbstbeschreibungstext auf ihrer Profilseite weist sie darauf hin, dass man nicht auf die Idee kommen solle, ihr Nachrichten zu schicken oder sie als »friend« hinzuzufügen, bevor man nicht auch die Internetseite der Band »retrofin« besucht und als Freund »geaddet« habe. Abgesehen davon habe sie genug Freunde. Offenbar ist Dees Selbstdarstellung Teil der Werbestrategie einer Rockband. Auch dies ist nicht ungewöhnlich: Auf MySpace tummeln sich Künstler, vor allem Musiker unterschiedlicher Popularität, mit ihren Fangemeinden. Hier ist die Werbung für Produkte und Personen, für Produkte von Personen und für Personen als Produkte eng verzahnt, und wir können kaum abschätzen, welche Qualität einem einzelnen Link zwischen Freunden in diesem Rahmen noch beizumessen ist.
Die Gefahr der Inflation
Dass Freundschaften einer gewissen Kapitallogik folgen, wissen wir seit Pierre Bourdieu diese ökonomische Kategorie auch auf soziale Beziehungs- sowie kulturelle Geschmacksinvestitionen ausgeweitet hat. Nach Bourdieu sind dabei jedoch Eigenheiten am Werk, die der Konvertierung verschiedener Kapitalarten Grenzen setzen: Die soziale Beziehungsarbeit kann die reziproken Verpflichtungen, wie sie unter Freunden bestehen, nicht einfach abschütteln. Im Internet jedoch werden Freundschaften sehr viel offener als monetäre Währung be- und gehandelt. Ihre nicht-ökonomische Seite, ihr Wert an sich, der aus den Gemeinsamkeiten einer Beziehungsgeschichte resultiert und die wechselseitige Gabe und Pflege besonderer Wertschätzung voraussetzt, tritt in der »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck) hinter das Quantitative allmählich zurück. Siegt damit das Zählbare endgültig über das Erzählbare? Oder sind wir noch einem Freundschaftsideal verhaftet, das schon längst nicht mehr trägt? Dass wir uns vom romantischen Freundschaftsbild verabschieden müssen, erkannte Georg Simmel bereits vor 100 Jahren. Denn mit fortschreitender Individualisierung werde die vollständige Überschneidung von Lebenswelten und Interessen gänzlich unwahrscheinlich. Daher empfahl er, von »differenzierten Freundschaften« zu sprechen. Doch Differenzierung, soviel sollte klar sein, meint dann immer noch qualitative Unterschiede in dieser sozialen Beziehungsform.
Natürlich soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass es solche Differenzierungen im Internet noch gibt. Freundschaften können hier ebenso real, echt und intensiv sein, wie sie umgekehrt auch im »Real Life« vielleicht nur virtuell bestehen mögen. Die Selbsttäuschungen eines Stalkers über das Bestehen und die Belastbarkeit einer Beziehung zu seinem Opfer sind ein extremes Beispiel, das sich abgeschwächt in so mancher Freundschaft finden mag. Der Mangel an körperlicher Kopräsenz, das Fehlen von Gestik und Mimik, all dies können erfahrene Internetnutzerinnen und -nutzer durch Surrogate, etwa durch Emoticons im Schriftverkehr oder das Ausdrucksdesign programmierter Avatare, zumindest teilweise ausgleichen. Vielleicht ist dies alles sogar gänzlich verzichtbar, weil auch im Netz vor allem die gemeinsame Geschichte zählt. Freundschaften dürften sich ohnehin einer Unterteilung in online oder offline meist versperren, da es gängige Praxis ist, Kommunikationskanäle zu wechseln. Im einen Fall wird die Möglichkeit zukünftiger Offline-Begegnungen frühzeitig mitgedacht. Im anderen, wohl häufigsten Fall setzen Freunde, die sich im »realen Leben« gefunden haben, ihre Beziehung auf einer Social-Network-Site bloß fort. Dann handelt es sich schlicht um den Zugewinn an verfügbaren Kommunikationsoptionen. Doch trägt diese Sichtweise nicht der Verschiebung Rechnung, die sich mit der Inflation sozialer Kontakt- und Beziehungsarbeit im Netz abzuzeichnen beginnt.
Auf dem Marktplatz
Auf der Shopping- und Meinungsplattform »Ciao.de«, die wir oftmals dann erreichen, wenn wir über Google Informationen oder Preisvergleiche zu einem Produkt suchen, spielen kleine persönliche Geschichten noch eine besondere Rolle. Denn hier werden »Erfahrungsberichte« von Verbraucherinnen und Verbrauchern zugänglich gemacht, die das Produkt bereits besitzen und über dessen Gebrauchsnutzen und die Zufriedenheit mit ihrer Kaufentscheidung für andere potentielle Käufer berichten. Dies begründet freilich keine Online-Freundschaft, denn beratende und beratene Person bleiben einander in den meisten Fällen fremd. Aber die ganze Plattform würde nicht funktionieren, würde sie den Amateurschreibern nicht auch eine Hinterbühne bieten, auf der sie sich austauschen und ein ausgedehntes Community-Leben entfalten können. Dieses schlägt sich nicht allein in Bewertungen und Kommentierungen ihrer Erfahrungsberichte nieder, was der Verteilung so genannter »Micro-Payments« für ihre Verbraucherberatung dient. Vielmehr findet es vor allem in persönlichen Gästebüchern und im »Ciao-Café« statt, wo über zahlreiche Themen diskutiert werden kann. Darunter findet sich auch die Rubrik »Freunde finden bei Ciao«. Zwar ist es kurios, dass sich Ciao-Mitglieder selbst hier noch an das Format des Testberichts halten und ihre Sternchen abgeben müssen: »Zur Bewertung sage ich mal drei Sterne pro, weil man über Ciao Menschen kennenlernt, die man sonst nie getroffen hätte. Und zwei Sterne Abzug. Ciao kann keine Garantie abgeben. Das wäre unseriös und auch unrealistisch.« Wichtiger aber ist, dass solchen Freundschaften eine soziale Beziehungsarbeit vorangeht, die in erster Linie nicht der Beziehung selbst, sondern wiederum ökonomischen Kalkülen verpflichtet ist.
Aufschlussreich ist, wessen Ertragslage davon am stärksten profitiert. Die Verbraucher, die im Internet nach dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis fahnden und hierfür die Meinungen von scheinbar Gleichgesinnten konsultieren, finden in erster Linie Jubelrezensionen vor, weil die Erfahrungsberichte bereits durch positive Kaufentscheidungen geprägt sind. Es ist letztlich eine geschickte Form von ausgelagerter Werbung, die Plattformen wie Ciao ihren kommerziellen Anbietern zur Verfügung stellen. Und die Werbeschaffenden, deren authentisch wirkende Geschichten den Produkten eine Aura und dem anonymen Marktplatz eine anheimelnde Atmosphäre verleihen, verdienen für ihre kulturelle Wertschöpfung so wenig, dass sie allein durch sekundäre Anreize bei der Stange gehalten werden können, etwa durch die Aussicht, in der internen Aufmerksamkeitshierarchie der Community aufzusteigen oder in dem Spiel »Freunde finden bei Ciao« einen guten Schnitt zu machen. Am meisten gewinnt jedoch der Betreiber der Plattform selbst, der als Marktforscher preisgünstig an hochwertige Käuferdaten gelangt und sich sein digital akkumuliertes Marktwissen von Auftraggebern ordentlich bezahlen lassen kann. Das alles ließe sich vielleicht ignorieren, würde das Prinzip der »Freundschaft« durch diese Form des »Crowdsourcing« nicht nachhaltig gestört. Doch welchen Effekt hat das »Social Net«-Working auf Plattformen wie Ciao, MySpace, YouTube oder StudiVZ, die für Milliardenbeträge von Medienkonzernen oder -mogulen aufgekauft worden sind, um in digitalen Kulturlandschaften neuartige Werbeflächen zu erschließen?
Die Lage ist vertrackt, denn mit gutem Grund lässt sich behaupten, dass Freundschaften in vielen sozialen Kontexten entstehen können und das bunte Treiben auf den Marktplätzen hiervon per se nicht ausgenommen werden darf. Doch die Form der Freundschaft, so vermuten wir, bleibt von dem ökonomischen Geist, der sie umgibt, nicht unberührt. Dee ist ein gutes Beispiel und auch Ehssan Dariani muss sich eine lange Freundesliste schon deshalb zulegen, weil sie das Wachstum symbolisiert, das sich für ihn in barer Münze ausgezahlt hat. Zu befürchten ist, dass die hohe Kunst, zwischen sozialer und ökonomischer Reziprozität zu trennen, in solchen Umgebungen auf Dauer Schaden nimmt. Anzeichen für solche Entwicklungen gibt es viele, Gewissheit zum Glück aber nicht. Denn noch steht das Internet auch für jene Formen des Gabentauschs, die wie Linux, Wikipedia und andere Open-Source-Projekte zur Welt der proprietären Interessen gebührend Abstand halten und so das Solidaritätspotential einer dezentralen Kommunikationsgemeinschaft erneuern helfen. Fragt sich nur, wie lange noch.