»Und man sieht nur die im Lichte – die im Dunkeln sieht man nicht«. Anders ist es bei Clemens Meyer. Im Mittelpunkt von »Die Nacht, die Lichter« stehen »die im Dunkeln«: die Nachtgestalten, die Gestrandeten, die Traurigen. In kurzen Spots lässt er sie aufleuchten, bevor er sich einem neuen Leben zuwendet. »Stories« nennt Meyer seine im Band versammelten 15 Geschichten ganz bewusst. Den Ausdruck »Erzählungen« mag er nicht, weil er ihm zu schwertönend klingt. Statt dessen hält er sich an die leichthändige angloamerikanische Tradition, an Hemingway, Ford oder Carver. In wenigen knappen Sätzen gelingt es ihm, ein Milieu, eine Stimmung aufzurufen. In der Geschichte »Warten auf Südamerika« sitzt eine Frau in der Abenddämmerung bei Kerzenschein in ihrer Wohnung. Der Sohn kommt zu Besuch: »Er sah die Kerzen dort, und jetzt wusste er, dass sie nicht freiwillig zusah, wie es langsam dunkel wurde. Sie hatten ihr den Strom abgestellt.« Die Menschen bei Meyer sitzen – manchmal eben sogar ganz wörtlich – im Dunkeln, und sie alle sehnen sich nach mehr Licht im Leben. In seinem Debütroman »Als wir träumten« erzählte Meyer vom Alltag der wütenden, abgerutschten Jugendlichen aus Leipzigs Vorstädten. In den Stories weitet sich der Blick auch auf andere Milieus. Natürlich gibt es auch hier wieder Junkies, Stricher, Knackis und die besonders berührende Geschichte von einem Dauerarbeitslosen, dem noch der letzte Freund, sein Hund, wegzusterben droht. Aber es gibt auch den Maler Johannes Vettermann, dessen Kunst aus den eigenen Alpträumen entsteht und der seinen Dämonen nur noch im Drogenrausch begegnen kann; es gibt den dicklichen Mathelehrer, der sich auf eine sehr zarte und unschuldige Weise in eine Schülerin verliebt. Er wolle Geschichten schreiben, die leuchten, hat Clemens Meyer über sein Buch gesagt. Es ist ein warmes Licht, das aus seinem Buch dringt.
Um ein unbestimmtes Gefühl von Heimat geht es in Jenny Erpenbecks Roman »Heimsuchung«. Schon der Titel spielt mit der Ambivalenz dieses Begriffs. Man kann von Erinnerungen, aber auch von Katastrophen heimgesucht werden. Zugleich klingt die Suche nach einem Heim und nach Heimat an. Bedrohung und Sehnsucht schwingen in dem Begriff mit. Ein Heim, genauer ein Sommerhaus am märkischen Scharmützelsee, ist auch das Zentrum des Romans. In ihm und seinen wechselnden Bewohnern spiegelt sich ein ganzes Jahrhundert Zeitgeschichte. Anhand von zwölf Einzelschicksalen – unter anderem ein Architekt, dessen jüdische Nachbarn, ein DDR-Schriftstellerehepaar und ein Arzt – erzählt Jenny Erpenbeck im Kleinen, meisterhaft verdichtet, von den großen Umwälzungen, den Ideologien, den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Klug und fast musikalisch komponiert sie diesen Roman über Heimat und Ortlosigkeit, über Besitz und Verlust. Am Ende wird an der Stelle des alten Hauses wieder ein neues entstehen. Dazwischen »gleicht die Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst.« Heimat bleibt in diesem stillen, lakonischen Roman etwas Unbestimmtes, etwas, das uns nie ganz gehören kann.
Eine Heimsuchung ganz anderer Art erlebt die Hauptfigur in Michael Kumpfmüllers Roman »Nachricht an alle«. Die Geschichte beginnt mit einer Katastrophe: Selden erhält eine SMS von seiner Tochter: »Oh mein Gott, es hat eine Explosion gegeben, es ist entsetzlich, wir stürzen ab, betet für mich, ich liebe euch.« Sie wird bei einem Flugzeugabsturz sterben. Selden ist Innenminister in einem westlichen Land, in dem es alles andere als beschaulich zugeht. Alles scheint irgendwie aus den Fugen zu geraten. Es gibt Streiks, Unruhen in den Vorstädten, Attentate. In dieses vage, düstere Katastrophenszenario webt Kumpfmüller eine Reihe persönlicher Geschichten ein. Seldens Ehe liegt im Argen, Hannah, ein Journalistin, wird seine Haus- und Hofreporterin; schließlich kommt es zu einer Affäre. Aber Selden ist nur eine Figur in diesem vielstimmigen Roman, in dem Kumpfmüller auch so etwas wie einen brabbelnden Gegenwartsdiskurs-Chor anstimmt: Es sprechen anonym Journalisten, Leibwächter, radikale Imame oder engagierte Mütter. Auch wenn seine Protagonisten manchen Politikern der Wirklichkeit ähneln: Kumpfmüller hat keinen Schlüssellochroman geschrieben. Gleichwohl gelingt ihm ein erschreckend realistischer Blick in das Zentrum der politischen Macht.
Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter. Stories, S. Fischer Verlag, 272 Seiten, 18,90 Euro
Jenny Erpenbeck: Heimsuchung, Eichborn Verlag, 189 Seiten, 17,95 Euro
Michael Kumpfmüller: Nachricht an alle, Kiepenheuer und Witsch, 383 Seiten, 19,95 Euro