Die Auseinandersetzung mit Freundschaft begleitet mich seit meiner Kindheit, als Begehren, als Realität, als Irritation. Ich erinnere mich an die quälende Unsicherheit, ob jemand überhaupt Freund ist, an das Glücksgefühl gelungener Freundschaft, an die Konkurrenz um Freundschaft, ans Dazugehören und Ausgeschlossensein. Ich erinnere mich an die Einsamkeit, ohne Freunde zu sein, an die Multiplikation von Freundschaft, an Cliquen und Großgruppen. Das kindliche und jugendliche Freundschaftsbegehren hatte eine Vielzahl von Motiven, ohne dass ich damals großartig darüber nachgedacht hätte. Und auch wenn sich das Verständnis von Freundschaft mit der Zeit verschoben hat, an Bedeutung verloren hat sie bis heute nicht. Also trifft es sich gut, einige Dinge festzuhalten.
Auch wenn es vielfältige Interessensüberschneidungen unter Freunden geben kann, kann man Freundschaft nicht weit genug fernhalten von der Politik eines gemeinsamen Interesses. Freundschaften sind keine Interessensgemeinschaften zur Optimierung eigener oder gemeinsamer Zwecke. Deshalb ist der inflationäre Gebrauch des Begriffs Freundschaft im Rahmen von Netzwerk- oder Geschäftsbeziehungen ein sicheres Indiz dafür, dass es sich nicht um Freundschaft handelt. Die eigenständige Kraft der Kategorie scheint mir vielmehr darin zu liegen, dass sie keine Gründe kennt. Und eben darin liegt auch ihre Irritation. Es gibt Anzeichen dafür, dass Freundschaft zunehmend als subsidiäres System eine Solidarfunktion in postkonventionellen Gesellschaften übernimmt. Und natürlich heißt Freundschaft auch, dass man sich aufeinander verlassen kann, dass man da ist, wenn man gebraucht wird. Aber: Das ist eher die Konsequenz aus als der Grund für Freundschaft. Freundschaft ist, sinnvoll verstanden, wenn schon kein Gegenentwurf, so doch eine Enklave in Milieus der Entgrenzung von Interessenspolitik und freundschaftlicher Verbindung. Liebe als grundloser Grund von Freundschaft zeigt sich deshalb zuallererst darin, dass man nichts tun muss, dass man miteinander schweigen kann, dass man fragt und sucht und offenlegt, ohne etwas zu erwarten.
Die philosophische Referenz findet sich bereits bei Aristoteles, der die Freundschaft unter Gleichen in der »Nikomachischen Ethik« in Nutzen-, Lust- und Tugendfreundschaft unterteilt. Die Nutzenfreundschaft bringt die Menschen zu einem Zweck zusammen. Mit dem Wegfall des Zwecks entfällt auch die Freundschaft. Ähnliches gilt für die affektiv begründete Lustfreundschaft. Tugendfreundschaft hingegen ist Freundschaft um des Freundes willen.
Das intrinsische Moment der Freundschaft kommt nicht aus ohne den Begriff der Liebe als Platzhalter für eben jene Hinwendung, die den reinen Zweck oder Nutzwert einer zwischenmenschlichen Beziehung übersteigt. Es ist wichtig, das so offen auszusprechen, so schillernd der Begriff der Liebe auch ist, denn nur so wird der Kontrast zu einer Praxis des strategischen Gebrauchs des Begriffs und der Codierung von Freundschaft hinreichend deutlich. Die Redeweisen vom »Geschäftsfreund« bis hin zur »Völkerfreundschaft« zeigen: es wurde schon immer versucht, interessengeleitete Verhältnisse als intrinsisch auszuweisen. Und doch scheint sich mir die Praxis der Berliner Republik durch eine besondere Tendenz der Verflüssigung zwischen den Sphären der Freundschaft und des Geschäfts auszuzeichnen. Dabei bezieht sich die Verflüssigungsdiagnose weniger auf »Netzwerke«, in denen die Zweckhaftigkeit des Zusammenschlusses in der Regel für alle Beteiligten deutlich zu Tage tritt. Sie bezieht sich eher auf all die exklusiven Geschäftsverbindungen, die sich quer durch Wirtschaft, Politik und Medien in der weinseligen und schulterklopfenden Verbrüderung der Hinterzimmer, Lounges und Festgesellschaften im Modus der Freundschaft situieren.
Radikalität der Suche
Die Sache mit der Freundschaft ist allerdings noch etwas komplizierter: Freundschaft braucht tatsächlich gemeinsame Motive, gemeinsame Projekte. Diese Motive und Projekte sind jedoch anders zu beschreiben als in den symbolischen und materiellen Tauschbeziehungen der Netzwerkökonomien in Politik, Kunst oder Wissenschaft. Das intrinsische Moment der Freundschaft stellt vielleicht den notwendigen Ausgangspunkt dar für eine gemeinsame, gleichwohl interessenspolitisch ungefilterte Suche nach etwas (gemeinhin: dem Guten, Wahren oder Schönen). Menschen, die sich als Freunde bezeichnen, streiten mehr und intensiver miteinander als Personen, die lediglich miteinander bekannt sind. Und es sind das Vertrauen und die Offenheit in der Freundschaft, die eine Auseinandersetzung auch in intimen Fragen ohne Angst vor Verletzung möglich machen. Diese Radikalität der Offenheit ist vermutlich ein Grund dafür, die künstlerische oder intellektuelle Liaison in der Freundschaft zu suchen. Mit dem Kampf um Mittel, Räume und Repräsentanz hat diese Art von Projekt, von gemeinsamem Fluchtpunkt wenig zu tun. All das spricht überhaupt nicht gegen Tauschbeziehungen zur Realisierung eigener oder gemeinsamer Projekte. Es spricht auch nicht per se gegen eine Gleichzeitigkeit von Freundschaft und Arbeitsbeziehung. Dort aber, wo die beiden Sphären in der Sprache und für die Individuen selbst nicht mehr unterscheidbar sind, geht etwas Elementares verloren. Du sollst mich nicht Roboter nennen.
Für die Annahme der Grundlosigkeit von Freundschaft ist verwirrend, in welcher engen sozialen und kulturellen Begrenzung sich Freundschaften oftmals bewegen. Testfrage an ein imaginiertes polar-Publikum: Wie viele der Freunde haben kein Abitur? Wie viele der Freunde bewegen sich in keinem beruflichen Zusammenhang? Wie viele der Freunde sind mehr als zehn Jahre älter oder jünger? Wie im Partnerschaftsverhalten gibt es offenkundig auch im Freundschaftsverhalten einen starken Magnetismus des eigenen Milieus. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein: Die Begrenztheit der sozialen und kulturellen Mobilität, die Suche nach Anerkennung im »narzisstischen Spiegel« der Freundschaft, aber auch die Entdeckung einer gemeinsamen Frage, eines gemeinsamen Ausgangspunkts, eingelassen in Sprache und Kontext. In jedem Fall verliert Freundschaft an der grenzüberschreitenden Kraft, die sie gerade auf Grund ihrer Grundlosigkeit besitzt.
Man darf das Moment der freien Wahl in Freundschafts- und Liebesbeziehungen nicht mit einer Position der Autarkie verwechseln, in der der/die andere als Subjekt gar nicht mehr vorkommt. Eher meint freie Wahl die Freiheit, selbst danach zu entscheiden, was sich aufdrängt, was an einem kleben bleibt. Und doch ist es seltsam, in welch engen Grenzen sich Freundschaften oftmals ereignen.
Im Generationenghetto
Dabei scheint die Hypothese einer gemeinsamen Generationenzugehörigkeit ein wichtiger Wegweiser bei der Bestimmung von Freundschaften zu sein. Gemeint ist damit nicht die bloße Alterskohorte, sondern eher die gemeinschafts- und letztlich freundschaftsbildende Annahme eines gemeinsamen Lebensstils. Nachzulesen ist diese Suchbewegung in all den selbstgefälligen Generationenautobiographien, die offensichtlich jeder bis spätestens Vierzig geschrieben haben muss. Auf der anderen Seite ist die Kategorie der Generation als soziologisches Analyseinstrument nach wie vor sinnvoll – um gemeinsame Kontexte zu beschreiben, aber auch, um Gemeinsamkeit zu dekonstruieren und andere Möglichkeiten sichtbar oder auch erst denkbar zu machen. In »meiner« – soziologisch zu beschreibenden – Generation gibt es einen Konformismus, über dem die Illusion einer extrem individualistischen Selbstbeschreibung liegt. Das gilt auch für die Konjunkturen im Kunst- und Wissenschaftsbetrieb, in denen ja der Autonomieanspruch besonders ausgeprägt ist. Insofern ist es notwendig zu fragen: Auf welchen äußeren Gründen beruht diese verschleierte Konformität? Welche gemeinsamen Kontexte gibt es? Welche Reaktionen auf diese Kontexte sind richtig und von allgemeinem Interesse und welche nicht? Nur wenn man diese Fragen stellt und dadurch den Hintergrund aufhellt, hat man die Chance, etwas anderes zu denken und zu leben – auch in der Freundschaft.
Die Kontingenz des Alters der Menschen, mit denen man viele Erfahrungen teilt, die Kontingenz der Milieus, in denen viele der Geschichten stattfinden: Das zu erkennen, ist vielleicht der erste Schritt heraus aus dem Generationenghetto.
Paradoxes Potential
Vor diesem Hintergrund werden andere Zufallsbegegnungen interessant: Beziehungen etwa, die auf Familie, aber auch auf Kindheits- oder Jugendverbindungen beruhen, enthalten unter dem Freundschaftsaspekt ein neues, scheinbar paradoxes Potential. Über das Paradigma der freien Wahl wird Freundschaft heute gerade gegen familiäre Beziehungen abgegrenzt, die als Verwandtschaft nicht frei gewählt sind. Diese Abgrenzung ist mit Blick auf die ökonomischen und psychischen Abhängigkeitsverhältnisse in diesen Beziehungen auch durchaus sinnvoll. Soweit die Abhängigkeiten jedoch durch eine Kollektivierung der Sozialsysteme und eine Individualisierung der Lebensformen abnehmen, werden familiäre Beziehungen mitunter zu den seltenen Fällen, in denen Liebe den engen Korridor des eigenen alters-, bildungs- und lebensstilkonditionierten Milieus überwindet. (Auch wenn sich über die Vererbung von Bildungschancen und kulturellen Einstellungen heute eine gewisse Nivellierung zwischen den Generationen feststellen lässt – die ihrerseits zum Problem werden kann.) Ob ein Eltern-Kind-Verhältnis diesen Weg geht, hängt von vielen Faktoren ab und lässt sich nicht pauschal behaupten oder gar empfehlen. Dort allerdings, wo sich die Perspektive einer Freundschaft einstellt, kann es sich um eine wichtige Ausfallstelle aus einem ansonsten eher konformen Freundeskreis handeln.
Auch den Verbindungen aus Kindheit und Jugend lässt sich unter Umständen ein ähnliches Potential zuschreiben. In einer Phase, in der sich die Freundschaften noch nicht in dem Maße nach Bildungsgrad, Wohlstand und Lebensstilen ausdifferenziert haben, liegt ebenfalls ein Potential für grenzüberschreitende freundschaftliche Verbindungen in späteren Lebensphasen, in denen sich ansonsten längst alles schön zurecht sortiert hat. Das gilt zumindest, solange in Kindheit und Jugend noch Orte der sozialen und kulturellen Inklusion existieren.
Und wenn Freundschaft ohne Liebe nicht auskommt, dann ist sie auch ein wichtiger Teil der (Paar-)Beziehung. Mit der Abnahme des sozioökonomischen Drucks auf Wahl und Gestaltung von Partnerschaft ist Liebe ins Zentrum des Partnerschaftsideals gerückt. Das bedeutet jedoch, Partnerschaft auch als eine besondere, libidinös aufgeladene Form der Freundschaft zu verteidigen, und nicht als bloße Solidar- oder Verantwortungsgemeinschaft. Mit dem Anstieg der Solidar- und Verantwortungsanteile in einer Beziehung – sei es durch Kinder oder Krankheit – kommt es darauf an, das Bewusstsein dafür zu schärfen. In Zeiten sozialer Prekarisierung und gesellschaftlicher Re-Subsidiarisierung erst recht.