Manche politischen Kontakte, auch die zwischen Unbekannten, funktionieren nur mit einem sehr hohen Maß an Vertrauen. Einem Vertrauen, wie es sonst nur zwischen engsten Freunden herrscht. Das gilt besonders für Untergrundbewegungen. Was geschieht aber, wenn sich Freundschaft und geheimes Netzwerk auf einmal berühren?
»Verrat ist Vertrauensbruch« – zugleich stiftet aber nur der Verrat Kommunikation zwischen antagonistischen politischen und sozialen Formationen, die einer zweiwertigen Logik, wie der von Freund/Feind, verpflichtet sind. In diesem Sinne lässt sich eine der grundlegenden Thesen von Margret Boveris Studie zum Verrat im XX. Jahrhundert (1956) zusammenfassen. Boveri zielt auf nichts weniger als eine umfassende Kartierung der »Landschaft des Verrats«. Die Frage ist, ob ihre Karte auch zur Orientierung in der Landschaft taugt, die der Verrat im 21. Jahrhundert formt.
Beantworten lässt sich dies mit Blick auf einen Roman, der Verrat und Vertrauensbruch in den verschiedensten Formen, d.h. von dem, was noch als Indiskretion gelten kann, bis zur Infiltration durch feindliche Agenten, in Form einer kohärenten Erzählung inszeniert und dabei Wege und Kreuzungen aufzeichnet, die durch diese Landschaft führen. Die Rede ist von Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung (2007). Der Weg durch diese erzählte Landschaft des Verrats beginnt mit dem Versuch des Journalisten Christian Eich, in Kontakt zu reaktivierten Untergrund-Netzwerken zu treten. Schon die Rede über diesen Plan entfesselt die mit der Beobachtung von Verrat einhergehende Dynamik, aus der eine Neuanordnung von Grenzen und Beziehungen resultiert. Mitgeteilt wird der Plan dem besten Freund, Jakob Schüssler. Es geht in diesem Gespräch unter Freunden zunächst nur um eine interessante Situation, hervorgebracht durch Regierungswechsel in Italien und Frankreich: Die Regierung Berlusconi verlangt die Auslieferung der in Frankreich semi-sesshaft gewordenen Akteure der Roten Brigaden – und die Regierung Chirac kündigt diesen die Duldung auf. Das Interessante der Situation liegt darin, dass von nun an mit der Reaktivierung von latenten Netzwerken zu rechnen ist.
Spaltpilz Verdacht
Die Schwierigkeit ist, die Schranken der Kommunikation zu überwinden, denen diese Netzwerke ihr Überleben verdanken, was schnell vom Gespräch unter Freunden zu Misstrauen und einem Verratsverdacht führt. Die Suche nach einem Knoten, von dem aus ein Weg in dieses Netzwerk führen könnte, erzeugt Turbulenzen, die zum Belastungstest dessen werden, was Mark Granovetter als strong tie zwischen Freunden beschrieben hat. Die Frage ist nämlich, ab wann Ansprüche auf die weak ties des Freundes nicht mehr nur indiskret, sondern eben Verrat sind, denn Christian will auf einen Kontakt zurückgreifen, von dem Jakob annehmen musste, er sei durch freundschaftliche Rücksichten vor Inanspruchnahme geschützt. Christians Plan sieht vor, dass ein »Bote« eine »Verbindung« zum Netzwerk herstellt und Kommunikation möglich macht. Dieser Bote soll nun niemand anderes sein als Jakobs Kollege Carl Brenner. Brenner, inzwischen verbeamtet und mit professoralen Würden versehen, hatte nachts in einer Bar sub rosa über seine Vergangenheit und damit seine Verbindung zu den Akteuren der Roten Brigaden gesprochen. Von diesem Punkt an, allein mit der Erwähnung dieses Namens und der Ankündigung der Inanspruchnahme einer entfernten und über den Freund vermittelten Verbindung, beginnt Freundschaft mit dem Problem des Vertrauensbruchs belastet zu werden. Mit der Aktualisierung des weak tie geht eine Störung der Freundschaft einher, da Jakob »Schwierigkeiten« in seinem beruflichen Umfeld vorausahnt; »Schwierigkeiten«, von denen er annimmt, sie wären für den Freund erstens evident und zweitens von diesem einkalkuliert. Eben dies führt, in den Worten des Romans, zu »enttäuschtem Vertrauen«.
Diese Erwartungsenttäuschung verändert alles: In der von der Umwelt abgegrenzten Freundschaft entstehen potentielle Zonen der Nicht-Kommunikation zugunsten des Einbezugs eines Dritten, denn eventuell ließe sich, aus Jakobs Perspektive, Schlimmeres noch verhindern, wenn man dem Freund entgegenarbeitet und dessen Pläne verrät. Auf die Beobachtung eines Verrats folgt ein Nachdenken über einen kleinen, im Gegenzug unternommenen Verrat. Dieser soll geheim bleiben: »Vielleicht wäre es das beste, Carl umgehend zu unterrichten. [...] Sub sigillo confessionis.« Die Beichte ist eine Metapher, das mit ihr einhergehende und besiegelte Geheimnis nicht: Die Möglichkeit, den Freund auszuschließen, wird zur wählbaren Alternative und die Möglichkeit von Verrat als Maßnahme gegen Vertrauensbruch kalkuliert.
Christians Frage im Anschluss an seine Unterrichtung Jakobs klingt ironisch und ist dennoch bitterernst: »Sind wir jetzt wieder Freunde?« Zumindest ist die Freundschaft nach dieser Information nicht mehr die, die sie kurz zuvor noch war. Denn jetzt wird sie beherrscht von Verdacht und dem Vorwurf des Vertrauensbruchs. Jakobs Worte zum Abschied, die äußerlich nichts als die schlichte Wiederholung einer Selbstverpflichtung Christians sind, zeigen, wie gründlich der Spaltpilz ›Verdacht‹ den strong tie schon angegriffen hat: »Ich kann mich auf dich verlassen.«
Umverteilung der Positionen
Der Verdacht auf Verrat weitet sich dann aus und wird bilateral. Die Szene ist Jakobs Geburtstagsparty: Brenners Anwesenheit wird dem Freund verschwiegen, dieser beginnt sich als »Objekt einer Übereinkunft« zwischen Jakob und Brenner zu fühlen, Gespräche scheinen plötzlich abzureißen. Die Wahrnehmung von Exklusion beherrscht das Feld und aus dem Freund wird ein Eindringling, gegen den man sich schützen muss. Die Korrosion der Freundschaft setzt sich fort: Schon machen sich »Asymmetrien« und ein »[u]ngeahnter Treueschwund« bemerkbar.
Aber auch Jakob enttäuscht Erwartungen, wenn auch auf umgekehrte Art und Weise: Er will keine neuen Bindungen zu einem Dritten herstellen, sondern er löst diese aus Christians Sicht abrupt auf und ignoriert Verpflichtungen alter Freundschaft. Er weigert sich aus nachvollziehbaren und doch im Sinne der Freundschaft enttäuschenden Gründen, auf der Beerdigung eines gemeinsamen Freundes zu erscheinen. Diese Verschärfung anlässlich der Beerdigung wird zur Probe auf das Fortbestehen gemeinsamer Werte: Was unter alltäglichen Bedingungen vielleicht verstehbar gewesen wäre, gerät jetzt in den Sog des Verdachts. Für Christian wird die Weigerung ein Versäumnis, dem ein anderes, ebenso gravierendes vorausgeht, das nun, im Lichte des Verdachts auf Verrat, plötzlich auffällig und augenscheinlich wird. Jakobs Wahl ist aber getroffen und in Folge breiten sich, der Roman benennt es direkt, »Misstrauen und Verdächtigung« weiter aus. Der Umbau der Ordnung der Freundschaft und damit einhergehend die Neuarrangierung von Inklusion/Exklusion sind eingeläutet.
Szene der Eskalation der Wirkung des um sich greifenden Verdachts auf Verrat ist ein Ausflug aufs Land, den Brenner, Christian und Jakob gemeinsam unternehmen. Die Umverteilung von Positionen wird als Erfahrung eines Ausschlusses aus der Kommunikation erlebt: Jakob drängt sich der Eindruck einer »telepathische[n] Verbindung« zwischen Brenner und Christian auf. Manifest wird die Neuordnung im Wortsinne ›augenblicklich‹: Carl beugt sich vor, »um Christian – an Jakob vorbei – anzusehen«, Jakob richtet sich auf und blickt »von oben auf den Freund herab«. In die symmetrische Relation der Freundschaft und des Vertrauens hat sich der Dritte gebracht, der nun den besten Freund als Störer und eben nicht-dazugehörig erscheinen lässt.
All dies, um in Kontakt zu einem Boten zu treten, der Informationsfluss ermöglicht. Dies gelingt auch: Das »Netzwerk« wird aktualisiert und »Botengänge aus alter Freundschaft« finden tatsächlich statt, nur steht im Gegenzug eine andere alte Freundschaft vor dem Kollaps. Die Problemstellung, die Jakob zu Beginn der Unterredung mit Christian als Einwand formuliert hatte, dass nämlich die Herstellung eines genügend hohen Grades von Vertrauenswürdigkeit kaum möglich wäre, ist aufgelöst. Nur bedeutet die Erzeugung von Vertrauen in exklusiven sozialen Formationen zugleich dessen Abbau auf der anderen Seite der Grenze.