»Man kennt sich, man hilft sich«, war schon Adenauers Credo. Doch während der organisierte Klüngel immer im Ruf steht, sich am Rande der Korruption zu bewegen, sind persönliche Netzwerke von Abgeordneten heute geradezu notwendig, um im harten Konkurrenzkampf des Parlamentsbetriebs zu überleben. »Das kommt aus dieser Erfahrung heraus, dass man in diesem Wildbach eben ein paar schöne Felsen hat, wo man sitzen kann und es weiterrauscht«. So beschreibt ein ehemaliger Fraktionsvorsitzender seine politischen Freundschaften. Ein romantisches Bild. Doch inwiefern passt es zu den gängigen Vorstellungen von Politik als Sphäre von Konkurrenz und Machtinteressen?
Politik und Freundschaft sind zwei Begriffe, die sich nach Meinung der meisten Beobachter des politischen Tagesgeschäfts gegenseitig ausschließen, da der Freundschaftsbegriff eben für Privatheit, Gleichheit, Gegenseitigkeit, Vertrauen und Selbstlosigkeit steht, während Politik mit Öffentlichkeit, Macht, Konkurrenz, Intrigen und Misstrauen assoziiert wird. Politischen Freundschaften wird zumeist mit Argwohn begegnet, da es immer an Korruption zu grenzen scheint, wenn Politiker Persönliches mit politischer Verantwortlichkeit vermengen. Ein moderner Politiker sollte private Angelegenheiten von seiner öffentlichen Verantwortung strikt trennen. Das war jedoch nicht immer so.
Keine Seelenverschmelzung, sondern Spannungsmanagement
In jeder historischen Epoche fanden sich rund um die Mächtigen Kreise dauerhafter persönlicher Beziehungen, die als Unterstützungssysteme im Kampf um politische Macht eingesetzt wurden, um Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, abzusichern oder zu erweitern. Mit politischen Freundschaften verbundene Handlungsweisen, wie die gegenseitige Hilfe oder Schutz, galten lange als Ausdruck politischer Tugend und waren selbstverständlicher Bestandteil politischen Handelns. Erst mit der Entstehung moderner Staatlichkeit und der Trennung des öffentlichen Staatsmenschen im Amt von der Privatexistenz eines Politikers setzte sich eine Perspektive durch, die diese Beziehungen und Praktiken in den Bereich des Privaten, Informellen und nicht zuletzt der Korruption drängte. Doch auch in modernen westlichen Demokratien sind politische Freundschaften als persönliche Unterstützungssysteme politischer Entscheidungsträger nicht obsolet geworden. Vielmehr können sie als elementare Phänomene auf der Handlungsebene politischer Führungsgruppen gelten, die gerade auch heute eine Rolle spielen, freilich sehr anders als es das romantische Bild des »Verschmelzens zweier Seelen« verspricht. Politische Freundschaften sind instrumentelle Beziehungen, unabhängig davon, ob sie aus der Perspektive der Akteure vielleicht auch andere Bedeutungen haben. Dabei hängt die Reichweite ihres Einflusses ganz wesentlich von den formalen und kulturellen Strukturen des politischen Systems ab, in das die Beziehungen eingebettet sind.
Die Bandbreite politischer Freundschaft, welche man auf einer kleinen tour d’amitié durch die Beziehungslandschaften der Berliner Republik auffindet, reicht von der eher privaten Freundschaft zweier Abgeordneter, die zusammen in einer Wohngemeinschaft wohnen, bis hin zum Stammtisch der SPD-»Netzwerker«. Dazwischen ist die langjährige Freundschaft zum Unternehmer im Wahlkreis oder die alte Clique aus der gemeinsamen Zeit in der Jungen Union anzusiedeln. In all diesen Beziehungen findet sich ein kompliziertes Spannungsgemisch aus Nähe und Distanz, persönlicher Verbundenheit und politischen Interessen. Mal überwiegt das eine, mal das andere. Die perfekte politische Freundschaft lässt sich wohl so beschreiben, dass sie persönlich genug ist, um einander zu vertrauen und loyal zueinander zu stehen und gleichzeitig genug Distanz hält, um nicht in »Freundschaftsfallen« zu tappen, in denen die politische Unabhängigkeit in Gefahr gerät.
Im Fall von Eberhard Diepgen und Klaus Landowsky war deren persönliche Verbundenheit so eng, dass sie sich im entscheidenden Augenblick nicht trennen konnten und folglich gemeinsam untergingen. Die Etablierung und Nutzung tragfähiger politischer Freundschaften ist außerordentlich voraussetzungsreich und verlangt spezifische Fähigkeiten, welche im Verlauf der politischen Karriere angeeignet werden. Mit Pierre Bourdieu kann dabei vom Erlernen des »Sinns für das politische Spiel« gesprochen werden, wobei Wissen und Fertigkeiten entwickelt und typische Denk- und Verhaltensmuster internalisiert werden, die es erlauben, sich »normal«, das heißt sytemadäquat zu verhalten. Hierzu gehören nicht zuletzt die Praktiken der Pflege politischer Freundschaften, die als eine Art »Spannungsmanagement« verstanden werden können, um persönliche Verbundenheit und politische Interessen miteinander auszubalancieren.
Vertrauen ist gut, Beziehungspflege ist besser
Was alle Beziehungsformen politischer Freundschaft vereint, sind die grundsätzlichen Verhaltenseffekte persönlicher Verbundenheit. Diese können abhängig von der Art der Beziehung als Nebenfolgen oder aber als strategische Ziele beschrieben werden. Vor allem aber ist zunächst hervorzuheben, dass über politische Freundschaft neben der offiziellen, formalen Struktur des politischen Feldes eine zweite Struktur etabliert werden kann, die durch persönliche Loyalität und Vertrauen geprägt ist und so hilft, Zeit und Transaktionskosten zu sparen. Aufgrund der Absicherung durch persönliches Vertrauen werden Handlungen möglich, welche ohne diese Verbindung zu risikoreich wären. Diese Handlungsermöglichung umfasst mehrere Aspekte:
Erstens ermöglichen politische Freundschaften Austauschhandlungen, die das Muster des do ut des durchbrechen und nach dem Modell generalisierter Reziprozität operieren. In politischen Freundschaften erfolgt ein Leistungsaustausch, ohne dass der Wert der Leistungen festgesetzt ist. Vielmehr existiert ein unbestimmtes Vertrauen auf gegenseitige Unterstützung in der Zukunft. Da Berufspolitiker ständig damit konfrontiert sind, ihren Verbleib in Amt oder Mandat abzusichern, stellt der Austausch von Unterstützungsleistungen (Stimmabgaben, Empfehlungen, Überzeugung Dritter usw.) auf der Basis politischer Freundschaften nach wie vor einen der wesentlichen Garanten langfristiger Positionssicherung dar. Man muss sich nur den Virtuosen politischer Freundschaftspflege, Helmut Kohl, in Erinnerung rufen, um zu verdeutlichen, welche Machtstabilität durch ein weit verzweigtes Netz politischer Freundschaften hervorgerufen werden kann.
Da es sich zweitens bei politischen Freundschaften um diskrete Beziehungen persönlicher Vertraulichkeit handelt, können öffentlich schwer vermittelbare Kommunikationen und Interaktionen in einem weitgehend geschützten Raum erfolgen. Angesichts medialer Dauerbeobachtung funktionieren schon allein viele sachpolitische Entscheidungsprozesse nur noch dann, wenn sie in geschützten Kommunikationsräumen vorbereitet werden. Ein Bundestagsabgeordneter bringt es so auf den Punkt: »Man bemüht sich, viel unter vier Augen zu regeln. Und wenn es dann am nächsten Tag in der Zeitung steht, wissen Sie wer es war und können dadurch ganz schnell politische Freundschaften beenden.« Politik in der Berliner Republik hat mehr denn je einen Bedarf an Räumen, in denen das gegenseitige Vertrauen besteht, dass kein Beteiligter Informationen »durchsticht «.
Drittens ist persönliche Verbundenheit nicht an die strukturellen Grenzen formaler Organisation wie Parteien oder politische Institutionen gebunden. Dadurch lassen sich Interessen realisieren, wie zum Beispiel Informationstransfers, welche die formale Arbeitsstruktur nicht ermöglicht. Es wird immer wieder betont, dass politische Steuerung in einer hoch differenzierten Gesellschaft nicht mehr hierarchisch erfolgen kann, sondern auf Aushandlungsprozesse mit Akteuren vielfältigster gesellschaftlicher Segmente und Funktionssysteme angewiesen ist. Aus Sicht von Berufspolitikern bedeutet dies, dass ein weites Netzwerk grenzüberschreitender persönlicher Beziehungen ein wesentliches Element ihrer politischen Handlungsfähigkeit darstellt. In den hoch komplexen »Parallelwelten« der policy-networks und Verhandlungssysteme werden die Fertigkeiten der Herstellung und Pflege politischer Freundschaft ganz besonders benötigt. Je mehr moderne politische Entscheidungsprozesse auf netzwerkartige Arrangements zurückgreifen (müssen), umso mehr gelangen auch Praktiken politischer Freundschaft wieder an die Oberfläche politischer Systeme.
Viertens ist in politischen Freundschaften Verhalten eindeutig zurechenbar, wodurch soziale Kontrolle und Verantwortlichkeit erhalten bleiben und Komplexität reduziert wird. Damit bieten politische Freundschaften Berufspolitikern wesentliche Möglichkeiten der Bewältigung einer aus subjektiver Sicht erdrückenden Komplexität und Geschwindigkeit politischer Prozesse. Politische Handlungsfähigkeit kann in einer solchen Situation nur erhalten bleiben, wenn die Vielfalt von Informationen selektiert und die Geschwindigkeit des politischen Alltags herabgesetzt wird, wofür politische Freundschaften intensiv genutzt werden.
Fünftens bewirkt persönliche Verbundenheit innerhalb politischer Freundschaften eine lebensweltnahe Identifikation und Integration des Berufspolitikers, die zu einem wichtigen Kompensationsmittel für fehlende Privatsphäre, psychische Beanspruchung und familiäre Belastungen werden kann, wie eine Abgeordnete bemerkt: »Das ist nicht nur Absicherung, das hat auch menschlich was mit Heimat zu tun, mit wohl fühlen. Man muss als Mensch auch noch irgendwie funktionieren und klar kommen.« Nicht zuletzt vermitteln politische Freundschaften auf diese Weise auch einen übergreifenden Sinn für das eigene Engagement, welcher aufgrund der strukturellen Neigung zum Opportunismus ansonsten leicht abhanden kommt.
Gegenüber diesen Vorteilen politischer Freundschaften für Berufspolitiker sind allerdings auch gewichtige Nachteile zu beachten, die vor allem aus Sicht des Publikums zu formulieren sind: Geschützte Kommunikationsräume bedeuten dann vor allem Intransparenz; grenzüberschreitende Beziehungen tragen die Gefahr in sich, politische Organisationen systematisch zu korrumpieren; Komplexitätsreduktion kann zu schwerwiegenden Vereinfachungen und Simplifizierungen gesellschaftlicher Prozesse und damit zu fehlerhaften Entscheidungen führen. Die Liste ließe sich beliebig erweitern und macht die Ambivalenz politischer Freundschaften deutlich. Allerdings muss eine normative Bewertung immer berücksichtigen, dass Praktiken der Etablierung und Pflege politischer Freundschaften elementare Bestandteile politischen Handelns sind, deren Bedeutung sich für den Berufspolitiker aus den Unsicherheiten und Ungewissheiten, den »Wildbächen« des politischen Feldes ergeben.