»Also ich erkläre Ihnen jetzt die Regierung, und das heißt, ich erkläre Ihnen, dass Sie in Zukunft bitte schön sich selbst regieren« – so Andy Müller-Maguhn in seiner »Regierungserklärung« anlässlich der Wahl zum Europa-Direktor der Internet-Regulierungsinstanz ICANN. Ein ehemaliges Mitglied des Chaos-Computer-Clubs wird zum Europa-Direktor einer Institution gewählt, die von der U.S. Administration einen Regulierungsauftrag übernimmt und verkündet anarchistisch-libertäres Gedankengut: »Machen Sie doch einfach, was Sie wollen« – fährt die Regierungserklärung fort. Die Situation ist keineswegs grotesk. Sie spiegelt die zirkuläre Ratio des Versuchs, Netzwerke – in diesem Fall ein technisches – mittels netzwerkförmiger Organisation zu regieren. Der Fall von ICANN zeigt die gesellschaftliche Virulenz der Netzwerkmetapher. Im Kern ein morphologischer Begriff, der ein mehr oder weniger dichtes Geflecht von Linien und Knoten, von Kanälen und Kreuzungen bezeichnet, avanciert Netzwerk zu einem Schlüsselbegriff der Gegenwartsbeschreibung.
Netzwerke mobilisieren die Kraft des Informellen gegen die bürokratisch-hierarchische Organisationsrationalität, die staatliche Verwaltungen, Unternehmen und gesellschaftliche Institutionen spätestens seit dem 19. Jahrhundert dominierte. Diese Organisationsrationalität ist keineswegs verschwunden, seit den späten 1980er Jahren bildet sie allerdings nicht mehr das Leitmodell institutioneller Rationalität. Legitimität und Struktur netzwerkförmiger Organisation sind in erheblichem Maße Ergebnis einer Politisierung sozialer Netze: Die Neuen Sozialen Bewegungen der 70er Jahre bauen nicht auf »gewachsene« lokal-räumliche Zusammenhänge, sondern betreiben aktive soziale Vernetzung. In der Bundesrepublik etwa entstehen in lokalen Kontexten Öko-, Friedens- und Wohnungsinitiativen, Frauen-, Schwulen-, Lesben-, Psycho-Szenen, die vom Lokalen ausgehend überregionale Zusammenhänge ausbilden. Netzwerke sollten Kooperation ermöglichen, ohne die Autonomie und Selbstbestimmung der einzelnen Gruppen zu untergraben. Sie verkörpern eine Alternative zu Staat und Großorganisationen und etablieren überdies alternative Lebensstile und Normen. Individuelle Bedürfnisse, in das Refugium des Privaten verdrängte Fähigkeiten und Werte wie Emotionalität, Spontaneität, Kreativität und Solidarität sollten Eingang in den öffentlichen Raum, in Politik und Ökonomie finden.
Was als Gegenentwurf gedacht war, avancierte zur Vorhut gesellschaftlicher Entwicklung. Bürokratische Regierung setzt auf die Macht der Position, netzwerkförmige auf die Stärke der Relation. Nicht Befugnisse, Qualitäten und Kompetenzen einer Stelle zählen, sondern die Form, die Anzahl und die Stärke ihrer Verbindungen. Nicht die politische Legitimität bürokratischer Administration, ihre Effizienz wird nun bestritten. Es geht nicht darum, formale Strukturen durch die schon im frühen Handelskapitalismus bedeutenden »old-boys-networks« zu ergänzen, gefordert wird vielmehr der radikale Bruch mit überkommenen Organisationsmodellen. Diese seien, so der Vorwurf, der Dynamik der politischen, ökonomischen oder technischen Entwicklung nicht mehr gewachsen. Seit Ende der 80er Jahre durchläuft das Netzwerkkonzept eine steile Karriere, zunächst in der Managementtheorie und -praxis, dann zunehmend auch im Bereich der staatlichen Verwaltung.
Netzwerkförmiges Regieren bezieht seine Legitimität aus der Komplexität des Regulierten. Bürokratisch-hierarchische Organisationen sind auf dauerhafte Aufgabenbewältigungen eingestellt, sie verwalten und steuern das Regelmäßige und Absehbare. Netzwerke markieren das Ende solcher Stabilitäten, das Ende detaillierter Planung, zentraler Steuerung und minutiöser Handlungsanweisung. Die Rationalität des Regierens, das, was als legitim und was als effizient gilt, ändert sich dort, wo man gesteigerte Komplexitäten und Dynamiken am Werk sieht. Kontingenzen werden nicht eingedämmt, sondern produktiv gemacht: Kontingenzmanagement statt Kontingenzbewältigung.
Der Komplexitätsforschung entlehnt die Organisations- und Managementlehre den Begriff der Selbstorganisation. Eine ganze Branche lebt davon, mittels Team- und Kommunikationstrainings, interaktiven Führungsmodellen, Kreativitätsseminaren usw. die Kraft der Selbstorganisation und die Befähigung, Selbstorganisation erfolgreich anzuordnen, zu aktivieren. Selbstorganisation freilich aber in Bahnen, welche die Unternehmensleitung vorgibt. Die Ratio netzwerkförmiger Führung liegt nicht in der Macht des Plans und der Kraft des Befehls, sondern in der Ausgabe von Leitlinien und der Intelligenz der Regierten, sich diesen in eigener Regie anpassen zu können.
Das anarchische Moment, das »Machen Sie doch, was Sie wollen« eröffnet, wie im Fall der Regulierung des Internets, ganz ohne Frage Spielräume. Zugleich aber entpuppt sich die Netzwerkratio als eine doppelbödige Regierungstechnik: als die Freiheit, sich spontan und kreativ der allgemeinen Dynamik anzupassen. Auf dass der Mensch zum Fisch werde – oder zum Projekt, zu einer Art Paket, das sich permanent readressiert.