polar #5: Politik der Freundschaft
EDITORIAL
INS HERZ
Georg W. Bertram Was uns aneinander bindet Das komplexe Netz freundschaftlicher Beziehungen
| Peter Siller Grundlose Freunde Zur Irritation intrinsischer Verbundenheit
| Interview Ann Elisabeth Auhagen »Sei dein Freund«
| Martin Hecht Netzwerk statt Fachwerk Die neue Autonomie der Freundschaft
| Jörn Lamla/Thies W . Böttcher »Social Net«-Work Freundschaft als digitale Werbefläche
| Jörg Benedict Jenseits von Ehe und Familie Amorphe Sonderverbindungen: Freundschaft als Rechtsinstitut
| Sebastian Groth Völkerfreundschaft Zur Grauzone zwischen protokollarischer Inszenierung und politischem Ereignis
| Julien Lennert An der Grenze Panarabismus und Flüchtlingspolitik in Syrien
| Hilal Sezgin Mein Freund, das Schaf Von Städtern, Bauern und ihren Tieren
| Stefan Gosepath, Arnd Pollmann, Stefan Huster, Peter Siller Ist es links?: >Parteilichkeit<
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Ina KernerLeben im Kapitalismus: >Host Mom< | Eine meiner ältesten Freundinnen heißt Betsy. Betsy geht jeden Sonntag in die Kirche und macht Square Dance. Sie ist immer geschminkt, mag Katzen und hat fünf Autos. Sie ist Anfang 60 und lebt in einem Blockhaus in Virginia, zusammen mit ihrem Mann Sid. Vor vielen Jahren war sie mal Fernsehmoderatorin, dann ein paar Jahre Bankerin, danach wieder Studentin und dann unterrichtete sie an einer High School Journalismus und Literatur. Betsy hat auch schon eine riesige Hochzeit organisiert und ist monatelang in einem Wohnmobil mit zwei Zimmern, Waschmaschine und Trockner durch Nordamerika gefahren. Sie hat eine junge Frau aus der Nachbarstadt zu Hause aufgenommen, die von ihrem gewalttätigen Exfreund bedroht wurde, und ehrenamtlich Alphabetisierungskurse für Erwachsene gegeben. Und sie war mal meine Mutter. Mehr oder weniger. Meine Gastmutter, Host Mom, wie es damals hieß. Mitte der 80er Jahre. Mitten im mittleren Westen. In den ersten Wochen hatte ich sie nicht gemocht, so sehr nicht, dass ich überlegte, die Familie zu wechseln. Das machten viele Austauschschülerinnen. Jahre später las ich in einem uralten Ratgeber für Gastfamilien, der mir in einem Antiquariat in Seattle in die Hände fiel, dass diese Art der Abneigung eine verbreitete Spielart jugendlichen Kulturschocks sei. Stimmt vermutlich. Nachdem ich den meinigen überwunden hatte, wurde es jedenfalls gut mit Betsy. An einem sonnigen Oktobertag, morgens waren wir in der Sonntagsschule gewesen, brachte sie mir auf dem Parkplatz der Shopping Mall Autofahren bei. Für den Herbstball der Schule kaufte sie mit mir rosafarbene Pumps aus Kunstleder. Sie fragte, ob ich Rezepte wolle für Muffins und Brownies – die ich gerne annahm – und riet mir, Büstenhalter zu tragen – was ich dankend ablehnte. Als sie ein paar Jahre später auf einer pauschal organisierten Europe in 10 Days-Reise für einige Stunden im Rheinland war, traf ich sie auf der Kölner Domplatte und lud sie zu Eintopf – it’s typically German! – mit Würsten ein. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit bekomme ich einen Rundbrief mit Familien-News. Umzüge, Jobwechsel, Knieoperationen, Geburt von Enkelkindern. Hobbies, Reisen, bewältigte Rückschläge und Erfolge. Wenn es sich ergibt, schau ich alle paar Jahre vorbei.
Und so saßen wir letztens auf ihrer Veranda, die US-Flagge in der Einfahrt im Blick, und rockten bedächtig in unseren Schaukelstühlen. Vor… zurück. Vor… der Boden knarrte etwas und es nieselte. Ich erzählte von der Schildkröte, der ich beim Spazierengehen begegnet war und Betsy sagte, nein, die sei bestimmt niemandem entlaufen, Schildkröten lebten in der Gegend wild. Sid war im Fernsehzimmer und guckte Baseball auf einem leinwandgroßen Flachbildschirm. Wie es um meine Beziehung stehe, wollte Betsy wissen. Und wie es meinen Eltern gehe. Und die Schwester, was mache die? Und der Bruder? Meine alte Freundin Betsy ist, wie viele ihrer Landsleute, familienorientiert. Wie glücklich sie sei, sagte sie, dass ihre Tochter – die mittlerweile selbst schon vier Kinder hat – glücklich sei. Dass es eine Weile gedauert habe, bis die ihren Weg gefunden hatte. Dass zum Beispiel ihr Ex nicht der richtige war – was sie aber natürlich niemals, aber auch wirklich niemals ausgesprochen hätte. Denn so was sage man nicht. Schließlich sei das der Tochter Sache, mit wem sie ausginge, und nicht die ihre. Schließlich sei das ihre Sache… Ich war beeindruckt. Dachte an einen Berliner Freund, der sich, seit er Vater geworden ist, ziemlich häufig Gedanken darüber macht, ob man mit seinen Eltern befreundet sein kann – oder eher: Wie das gelingen könnte. Ich sollte ihn vielleicht mal mit Betsy bekannt machen. Die ihre erwachsenen Kinder einfach wie Erwachsene behandelt und nicht wie Kinder. P.S.: Genau genommen haben Betsy und ihr Mann Sid sechs Autos. Das sechste ist ein Buggy, ein geländegängiges Fun-Car, das die meiste Zeit des Jahres im Schuppen steht. Der Buggy ist ein Spielzeug. Für den Sohn und den Schwiegersohn. Wenn die mal wieder zu Besuch da sind.
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IM NETZ
AM RAND
SCHÖNHEITEN
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