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polar #5: Politik der Freundschaft



EDITORIAL

 
Peter Siller,/Bertram Keller
Editorial



INS HERZ

 
Georg W. Bertram
Was uns aneinander bindet
Das komplexe Netz freundschaftlicher Beziehungen
 
Peter Siller
Grundlose Freunde
Zur Irritation intrinsischer Verbundenheit
 
 

Interview Ann Elisabeth Auhagen

»Sei dein Freund«


Ersatzfamilie? Seelsorge? Sicherheitsnetz? An Freundschaft heften sich viele Grundbedürfnisse und soziale Erwartungen. Ihr wesentliches Merkmal ist aber, dass es für sie keine offiziellen Regeln und Pflichten gibt. Sagt die Psychologin ANN ELISABETH AUHAGEN.

polar: Wozu braucht man Freunde?

Auhagen: Es gibt natürlich auch Menschen, die gar keine Freunde haben möchten. Aber viele von uns wollen gern Freunde haben und freuen sich über Freundschaften. Ich habe mal gesagt, Freundschaft ist ein gutes Miteinander, und das hilft uns dabei, unser Leben zu gestalten. Ein Schwerpunkt ist, dass wir uns als Freundinnen und Freunde unterstützen und einander helfen. Ein anderer, dass wir uns gegenseitig stimulieren, Freude miteinander haben, Spaß miteinander haben, uns geistig anregen. Außerdem haben wir in Freundschaften ein Lernfeld für uns selbst und dafür, uns zu entwickeln.

polar: Eltern sorgen sich, wenn ihre Kinder keine oder wenige Freunde haben. Was heißt es, wenn jemand unfreiwillig keine Freunde hat?

Auhagen: Diese Person kann überlegen, woran das liegt. Einerseits ist es wichtig, sich überhaupt in einem Umfeld zu bewegen, wo möglicherweise Freunde sind. Wo andere Menschen sind, die ähnliche Interessen haben. Die andere Sache ist, sich zu fragen: Was kann ich selbst tun? Zu Beginn einer Freundschaft gibt es eine gewisse Gratwanderung zwischen Nähe und Freilassen. Wenn es ein paar Mal nicht klappt, kann es daran liegen, dass ich zu forsch war oder zu wenig Interesse gezeigt habe oder daran, dass ich die falsche Person sympathisch fand. Ich bin überzeugt davon, dass jeder und jede Freunde finden kann. Und auch in jedem Alter! Wobei hilfreich ist, schon in der Jugendzeit und im Erwachsenenalter Freundschaften zu schließen, dann fällt es auch im so genannten Alter leichter, neue Freundschaften zu schließen.

polar: Welche Rolle spielt Verantwortung in Freundschaften?

Auhagen: Verantwortung haben wir für uns selbst und eigenes Verhalten.

polar: Verspüren Freunde nicht gegenseitige Verantwortung füreinander?

Auhagen: Wenn sie mit Verantwortung Freundschaftspflege meinen, wäre das schon so. Ich würde das aber nicht unbedingt als Verantwortung für eine andere Person sehen, sondern auch als Verantwortung im Rahmen meines eigenen Tuns, Denkens, Fühlens und Redens. Also als Verantwortung gegenüber dem und nicht für den anderen.

polar: Wie maßgeblich sind Freundschaften für soziale Anerkennung?

Auhagen: Wenn ich meine, dass etwas für mich maßgeblich ist, zum Beispiel die Anerkennung durch andere, dann wird sich das für mich auch als maßgeblich zeigen. Ich kann aber auch sagen, ich bin unabhängig von der Anerkennung durch andere. Das tun bei uns nicht viele Menschen, aber es ist mal zu überlegen, ob das nicht eine sinnvolle Haltung ist. Zu sagen: Ich suche nicht die Anerkennung bei anderen. Der erste Weg ist: Ich anerkenne die anderen als Wesen von Würde und als Wesen mit einem positiven Kern. In dem Moment, wo ich das tue, würde ich mich selbst in mir selbst anerkennen.

polar: Die Ansprüche an eine Freundschaft unterscheiden sich von denen an eine Liebesbeziehung oder Ehe. Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit, aber es gibt keine offiziellen Regeln und Pflichten. Liegt in dieser Freiheit eine Besonderheit von Freundschaften?

Auhagen: Es gibt keine offiziellen Pflichten und keinen offiziellen Anfang von Freundschaft und meistens auch kein offizielles Ende. Es sei denn, es gibt einen Eklat oder einen Konflikt. Ein Vertrauensbruch oder ein vermeintlicher Vertrauensbruch ist ein Grund, warum manche Freundschaften enden. Ich würde immer empfehlen, wenigstens positiv zu bleiben. Auch wenn man keinen Kontakt mehr hat, ist es etwas anderes zu denken »Mit dieser Person habe ich eine wunderbare Freundschaft gehabt, und jetzt im Moment ist es nicht mehr so« anstatt zu denken »Mit dieser Person werde ich nie wieder ein Wort wechseln.« Freundschaft ist eine Beziehung, die auf der Freiwilligkeit der Wahl, auf der Freiwilligkeit der Gestaltung der Beziehung beruht und eben auch auf der Freiwilligkeit des Fortbestandes. Wir haben natürlich oftmals bestimmte Vorstellungen über Freundschaft. Aber es empfiehlt sich eigentlich, vor allen Dingen zu überlegen: Wie bin ich selbst als Freundin oder als Freund? Anstatt allzu große Erwartungen in jemand anderen zu setzen. Häufig haben wir schon einmal selbst die Erwartungen nicht erfüllt, die ein anderer in uns hatte.

polar: Wie bin ich also eine gute Freundin?

Auhagen: Ich bin eine gute Freundin, wenn ich die Freundschaft in gewisser Weise pflege. Das ist ausgesprochen flexibel und muss nicht regelmäßig sein. Aber zeigen, dass ich den anderen oder die andere mag, zeigen, dass mir die Beziehung etwas wert ist. Es ist sehr wichtig, das mir geschenkte Vertrauen nicht zu missbrauchen, für den anderen da zu sein, wenn er oder sie mich braucht. Aber auch, wenn er oder sie mich nicht braucht. Einfach mal so anrufen, sich einfach mal so melden. Dem anderen Nähe zeigen, aber auch die Freiheit lassen, wie er oder sie ist. Das heißt aber nicht, dass man keine Grenzen setzen darf.

polar: Freundschaft existiert nur dann, wenn sie gegenseitig ist.

Auhagen: Ich habe Freundschaft definiert als eine soziale Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht, die auf Freiwilligkeit beruht, die auf einem zeitlichen Aspekt beruht. Man wird nicht sofort Freund, man hat eine Zukunftsidee dabei. Ich habe außerdem ausgeschlossen, dass dabei sexuelle Beziehungen im engeren Sinne stattfinden. Denn dann wäre es eine Partnerschaft oder Liebe.

polar: Was sagen Sie zu dem Harry-und-Sally-Klischee, Freundschaften zwischen heterosexuellen Männern und Frauen seien nicht möglich?

Auhagen: Selbstverständlich sind Freundschaften zwischen Männern und Frauen möglich und auch zwischen allen Altersklassen. Die Kriterien für Freundschaften sind andere. Die Forschung hat gezeigt, dass das manchmal instabilere Beziehungen bleiben, wenn einer von beiden eine andere Art von Beziehung möchte. Wenn sich aber beide einig sind, dass es eine Freundschaft ist und das auch so empfinden, gibt es gar keinen Grund, warum es nicht funktionieren soll. Filme wie »Harry und Sally« zielen darauf ab, dass zwischen Männern und Frauen alles nur über eine sexuelle Beziehung abläuft. Ich glaube nicht, dass wir uns Gutes tun, wenn wir in den Medien immer nur diese Art von Berichten haben.

polar: Unsere Freunde können wir uns im Gegensatz zu unserer Familie frei wählen. Freundschaft beruht zumeist auf echtem Interesse an der anderen Person, nicht auf zufälliger »Blutsverwandtschaft.« Gerade Menschen, die in ihrer Familie nicht akzeptiert werden, finden häufig im Freundeskreis eine Art Ersatzfamilie.

Auhagen: Auch die Familie sollten wir eigentlich nicht als Zwang sehen, man kann sie auch als Wahl sehen. Freundschaft empfinden wir natürlich sehr viel stärker als Wahl, aber es wäre ein spannender Gedanke, wenn wir uns einmal vorstellen würden, dass ich auch alle anderen Menschen in meinem Leben gewählt habe, seien es Freunde oder Kollegen. Von dieser Warte betrachtet, kann ich fragen, was ich machen kann, damit diese Beziehung mir und der anderen Person zum Guten gereicht.

polar: Muss eine Freundschaft Konflikte aushalten können?

Auhagen: Man kann es so generell nicht sagen. Es hängt von der Art der Konflikte ab und davon, ob beide Personen ihn als Konflikt empfinden oder nur eine Person. In gravierenden Situationen ist Konfliktmanagement kein Patentrezept. Es kann sowohl richtig sein, ein Gespräch unter den Regeln des Feedback zu führen, es kann auch richtig sein, eine andere Möglichkeit zu wählen.

polar: In Ihrem Buch »Positive Kommunikation« plädieren Sie für die Grundhaltung, dem anderen positiv gegenüber zu treten. Ließe sich das auf Konfliktsituationen übertragen?

Auhagen: Unbedingt. Aber es gibt ja auch schwierige Kommunikationssituationen, die noch kein Konflikt sind. Je eher man da ansetzt, und je weniger man die Situation eskalieren lässt, je positiver man von vornherein ist, entspannender auf die andere Person wirkt, desto weniger leicht kommen überhaupt Konflikte. Wir haben die Macht über unsere Gefühle. Es geht nicht darum, die Aggressionen zu verdrängen. Ich kann aber sagen: Der andere ist nicht die Ursache für meinen Ärger, ich selbst wähle, mich zu ärgern. Ich kann also auch wählen, mich nicht zu ärgern, sondern dem anderen freundlich gegenüber zu bleiben.

polar: Wie funktioniert das gegenüber Leuten, mit denen man nicht kommunizieren will oder kann? Mit denen einfach die Chemie nicht stimmt oder etwa die politischen Divergenzen so groß sind, dass man sagt: Ich grüße diese Person vielleicht, aber ich möchte nicht mit ihr reden?

Auhagen: Das ist auch eine Wahl, so zu denken und zu fühlen. Dann entscheidet man, so zu sein und so zu handeln. Es ist natürlich die Frage, welche Konsequenzen diese Entscheidung für einen selbst hat. Ich glaube, wenn wir negativer Stimmung sind, ist das schlecht für uns selbst. Die anderen trifft das ja überhaupt nicht. Was ich vorschlage ist, zu fragen: Ist das wirklich notwendig? Das ist meiner Meinung nach übertragbar auf die höchste Ebene. Wie etwa Kriege.

polar: Dieser Punkt knüpft an philosophische Fragen nach dem »Wie wollen wir leben?« und »Wie wollen wir angenehm miteinander leben?« an. Sollten Bürger vielleicht nicht gleich Freunde, aber Gefährten sein?

Auhagen: Die Positive Kommunikation basiert darauf, dass wir in jedem Menschen ein Wesen mit Würde und einem positiven Kern sehen. Dann ist es eigentlich ganz einfach. Dann gibt es nicht mehr diese Hassfigur. Das bedeutet nicht, dass ich mich selbst aufgeben muss oder dass ich nicht mehr handeln kann, sondern es bedeutet, dass ich mit Nächstenliebe und ohne Erwartung von Gegenleistungen kommuniziere.

polar: Wird das nicht immer schwieriger in Kontexten, in denen die Grenze zwischen Freundschaften und beruflichen Netzwerken immer stärker verschwimmt?

Auhagen: Der Begriff »Netzwerk« ist an sich neutral und meint eine Gruppe von Personen, die Verbindungen untereinander haben, sich aber nicht unbedingt persönlich, von Angesicht zu Angesicht, kennen. In Abgrenzung dazu kennen wir uns in Freundschaften persönlich. Natürlich kann und sollte man in beruflichen Kontexten, etwa aufgrund von Verträgen, Erwartungen haben. Aber auch in Netzwerken können wir die anderen als Wesen von Würde ansehen und gegebenenfalls Freundschaften entwickeln, wenn beide Seiten dies wollen und die genannten Kriterien einhalten.

Das Interview führte Julia Roth.



 
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