Iraq Street in der Mittagshitze eines frühen Sommertages: Männergruppen bevölkern Straßenränder und Bürgersteige sitzend, stehend, rauchend. Bunte Konterfeis irakischer Kleriker blicken ernst von den niedrigen Mauern. Es ist staubig und voll. Fliegende Händler und Dialekte aus allen Teilen Iraks lärmen durcheinander und aus den Reisebüros, rechts und links der Straße klingt die ewig gleiche Leier: Bagdad, Basra, Mosul! Es sind die Gerüche, Stimmen und Menschen einer irakischen Stadt. Tatsächlich jedoch führt Iraq Street durch den Damaszener Stadtteil Saiyda Zeinab – benannt nach der im Zentrum gelegenen Moschee selbigen Namens, die irakischen Schiiten seit Jahrzehnten als Pilgerstätte dient. Saiyda Zeinab ist heute Hochburg und neue Heimat Zehntausender irakischer Flüchtlinge, die im benachbarten Syrien Schutz vor der stetig wachsenden Gewalt im eigenen Land suchen.
Schätzungen zur tatsächlichen Anzahl irakischer Flüchtlinge in Syrien sind umstritten und variieren von 500.000 bis zu 1,5 Millionen. Mitte 2007 wurden täglich bis zu 2.000 Flüchtlinge gezählt, die die Grenze von Irak nach Syrien überquerten. Heute geht man von – grob geschätzten – 700 einreisenden Flüchtlingen pro Tag aus. Die meisten davon lassen sich in Damaskus nieder, wo sie unübersehbar zu einem neuen Segment der urbanen Textur heranwachsen – mit eigenen Bräuchen, Straßen, Ansprüchen und Bedürfnissen. Obwohl viele der Iraker ihren Aufenthalt beim Nachbarn nur als vorübergehende Notlösung betrachten, sieht sich der Staat vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Laut Regierung übersteigen die Kosten der Flüchtlingskrise jedes Jahr 1,5 Milliarden Dollar. Einbezogen in diese Schätzung sind die Kosten für eine von den Irakern umfassend in Anspruch genommene Gesundheitsversorgung und der Besuch staatlicher Schulen. Darüber hinaus konsumieren die irakischen Gäste ebenso wie syrische Bürger massenweise staatlich subventionierte Güter wie Brot und Benzin. Lokalen Medienberichten zufolge ist in Damaskus die Nachfrage für Brot um 35 Prozent angestiegen, der Verbrauch von Elektrizität um 27 Prozent, der Verbrauch von Wasser um 20 Prozent, der Benzinverbrauch um 17 Prozent.
Empathie und panarabische Ideologie
Dabei ist die syrische Politik der offenen Grenzen nicht dem legalen Status der Iraker als Flüchtlinge geschuldet. Tatsächlich gehört Syrien nicht einmal zu den Unterzeichnern der Genfer Konventionen, so dass völkerrechtliche Verpflichtungen diesbezüglich nicht bestehen. Ebenso wenig greift hier der Reflex einer orientalischen Gastfreundschaft, die den Araber dazu verdonnert, jedem Reisenden das eigene Haus anzubieten.
Richtig ist, dass die syrische Haltung tief verankert ist in verschiedenen Grenzwerten der Freundschaft wie: Solidarität, Empathie, Verantwortung. Die solidarische Haltung ist Teil einer panarabischen Ideologie, die der Politik der regierenden Baath-Partei zugrunde liegt. »Die arabische Heimat ist eine unteilbare politische und ökonomische Einheit« heißt es in der Verfassung der Baath-Partei. Diese panarabische Einheit verbindet – aus Sicht Syriens – alle Araber des Nahen und Mittleren Ostens und ist in Syrien Grundlage einer entspannten Grenzpolitik gegenüber Arabern, die Einlass begehren. Davon profitieren zurzeit die Iraker.
Interessen und Einfluss
Die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens sind freilich Flüchtlingskatastrophen gewohnt: Die Flucht von 700.000 Palästinensern nach der Gründung Israels 1948 war nur der Auftakt für eine ganze Reihe von Flüchtlingswellen, die – jeweils durch Kriege verursacht – zu immer neuen Belastungen und Konflikten führten. Doch die schiere Masse der Menschen, die seit 2003 Irak verlassen erstaunt selbst die Ältesten unter den Kriegskennern. Der Umfang der syrischen Bevölkerung, die bisher 19 Millionen Menschen zählte, ist seit Ausbruch der Gewalt im Irak um 8 Prozent gestiegen.
Ende 2007 begann die wachsende Zahl der Flüchtlinge die ohnehin instabile Versorgungslage in Syrien ernsthaft zu gefährden, so dass die syrische Regierung im Oktober 2007 erstmals Einreisebeschränkungen einführte. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten Iraker bedingungslos einreisen, was Hunderttausenden von ihnen das Leben rettete hat, zumal andere Staaten wie der Libanon und Jordanien seit 2005 den Grenzübertritt sukzessive erschweren. Heute können beide Länder von Irakern praktisch nicht mehr bereist werden während Syrien weiterhin Aufenthaltsgenehmigungen erteilt. Ausgangspunkt für alle Großzügigkeit ist die Annahme, dass die Gäste in ihre Heimat zurückkehren, sobald die irakische Sicherheitslage sich bessert.
Die realpolitische Motivation der syrischen Politik hat freilich nicht nur selbstlose Facetten: Syriens Haltung in der Flüchtlingskrise spekuliert auf internationale Anerkennung, die ein Gegengewicht zur Strategie der amerikanischen Administration schaffen soll, die auf eine Isolation des syrischen Regimes angelegt ist. Durch die unkomplizierte Aufnahme großer Flüchtlingsmengen positioniert sich Iraks Nachbar als zusätzliches Opfer der Vereinigten Staaten. Durch die Aufnahme der irakischen Flüchtlinge, zu denen sowohl hochrangige Politiker als auch Widerstandsstrategen gehören, gewinnt Syrien zusätzlich Möglichkeiten, Einfluss auf die politische Entwicklung im Irak zu nehmen und den eigenen Interessen in der Region auf diesem Wege Geltung zu verschaffen.
Spannungen und Konflikte
Seitens der internationalen Gemeinschaft wird die Flüchtlingskrise mit minimalem Aufwand bearbeitet. The United Nations Refugee Agency (UNHCR) hat Vereinbarungen unterzeichnet, die sie zur Bereitstellung von 38 Millionen USDollar an die syrische Regierung für den Aufbau von Schulen, Krankenhäusern und anderen, von der Krise betroffenen, öffentlichen Einrichtungen verpflichtet. Die vom UNHCR für 2008 beantragten 261 Millionen US-Dollar sind – trotz aller Dringlichkeit – in dieser Höhe nicht bewilligt worden. Die Einführung von Einreisebeschränkungen im Oktober 2007 war dann auch als Anklage gegen den Mangel an Unterstützung gemeint, den Syrien durch andere Länder zurzeit erfährt.
Im Widerspruch zu diesem Vorwurf bemüht sich die syrische Regierung darum, die Aktivitäten internationaler, humanitärer Hilfsorganisationen im Land zu beschränken und zu kontrollieren. Bemühungen dieser Art richten sich gegen die Verbreitung westlicher Kultur im Land, treffen aber vor allem die Opfer der Krise, denen der Zugang zu internationaler Hilfe und Unterstützung verbaut wird. Um es noch klarer auszudrücken: Syrische Gastfreundschaft erstreckt sich keineswegs in alle Richtungen. Namentlich irakische Palästinenser sind von jeglicher Unterstützung ausgeschlossen. Mit der Begründung, dass sie keine Heimat haben, in die sie zurückkehren können, werden die meisten Palästinenser gar nicht erst ins Land gelassen. In der Folge dieser zynischen Argumentation haben sich im Grenzland zwischen Irak und Syrien mehr als 2.000 Palästinenser niedergelassen, die im Irak als ehemalige Günstlinge Saddam Husseins verfolgt werden.
Ungeklärt ist, wie es weiter gehen soll. Bisher sind viele der durch und unter den Flüchtlingen entstehenden Notlagen durch spontane Hilfsaktionen unter Nachbarn und eine generelle Atmosphäre der Hilfsbereitschaft auf privater Ebene abgefedert worden. Wer kann, stellt Wohnungen oder Lebensmittel zur Verfügung. Aller Ortens entstehen informelle Netzwerke, die Unterricht und Betreuung für irakische Kinder organisieren. Freilich hofft man darauf, dass der Besuch bald wieder Abschied nimmt. Bis dahin wird er versorgt und geduldet. Doch wie lange wird diese Toleranz dem gleichzeitig wachsenden Ärger in der Bevölkerung standhalten? Schon werden Stimmen lauter, die den Zustrom der Iraker für die sozialen Missstände im eigenen Land verantwortlich machen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit über 20 Prozent, rasende Inflation und steigende Mietpreise – für alles werden neuerdings die Iraker zum Sündenbock.
Fakt ist, dass die Wirtschaftslage in Syrien konstant schlechter wird und dass gleichzeitig immer mehr Iraker sich gegen eine Rückkehr in die Heimat entscheiden und stattdessen in Damaskus Wurzeln schlagen. Nach dem UNHCR planen weniger als vier Prozent der Flüchtlinge eine Rückkehr. Auch unter den irakischen Flüchtlingen macht sich angesichts schwindender privater Ressourcen langsam Verzweiflung breit und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Spannungen zwischen Irakern und Syrern in naher Zukunft zu handfesten Konflikten führen. Denn in einer Sache bleibt die syrische Regierung bisher stur: Iraker erhalten keine Arbeitserlaubnis. Ohne Arbeit und ohne Geld rutschen die Flüchtlinge ins gesellschaftliche Abseits, wo Menschenhandel, Prostitution und Schmuggel das Überleben sichern.
Übersetzung aus dem Englischen: Anja Wollenberg.