Die Wahrheit, so sagt die Bibel, wird uns frei machen. Sieht man einmal davon ab, dass mit Wahrheit und Freiheit hier sehr spezielle Dinge gemeint sein dürften, klingt das heute für viele ganz naiv und verzopft. »Freedom's just another word for nothing left to lose« könnte die Maxime der freiheitsskeptischen Literatur sein, die gerade den Markt überschwemmt und die »Tyrannei der Freiheit« beklagt, die das »erschöpfte Selbst« in der »Müdigkeitsgesellschaft« direkt in die Depression führe. Ähnlich schlecht ergeht es der Wahrheit: »Man« weiß doch nun, dass die Wahrheit immer nur eine Konstruktion ist, jeder seine eigene hat und Wahrheitsbehauptungen eigentlich nur Machtansprüche sind. Bestseller aus der Verhaltensökonomie weisen zudem nach, wie wir ständig in Denkfallen stolpern und manipuliert werden. Von Wahrheit und Erkenntnis offensichtlich keine Spur in diesen nachaufgeklärten Zeiten. Politisch ist dieses Geraune eine Katastrophe. Heraus kommt nämlich eine eigenartige Mischung aus politischer Korrektheit und Sozialtechnologie, die die Überzeugung, dass Menschen frei sein können, weil und indem sie die Wahrheit erkennen, längst aufgegeben hat. Wenn es weder Wahrheit noch Freiheit gibt, sind wir wie Kinder, die behütet, erzogen und manchmal auch manipuliert werden müssen - es ist ja eh alles einerlei. Die »edle Lüge« hat eine lange Tradition in der politischen Philosophie. Aber links ist sie nicht. Fast möchte man wieder sagen: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Stefan Huster Wahrheit an sich ist nicht links, sondern die Kritik absoluter Wahrheiten. Wahrheiten gibt es nicht ohne Kontext in der Theorie wie der sozialen Praxis. Paradigmen prägen (natur-)wissenschaftliche Wahrheiten. Kulturelle Moden bestimmen soziale Wahrheiten. Absolute Naturrechte gibt es nicht. Absolute Wahrheiten gibt es nur im Glauben und werden oft zur politischen Manipulation missbraucht. Mit Religionen wird in den Krieg gezogen und libertärer Marktglaube legitimiert soziale Ungleichheit. Relativismus bedeutetet aber nicht postmoderne Beliebigkeit. Wahrheit ist politisch. Als solche muss sie sich dem permanenten Kampf der Argumente stellen. Eine linke Wahrheit ist die Akzeptanz und Verteidigung dieser mühsamen Praxis beständiger Rechtsfertigung. Wahrheit gibt es nur als Konsens im Diskurs mit anderen. Bertram Lomfeld [...] |