Franz Rosenzweig - Rainald Goetz - Roland Barthes In Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand beschreibt Franz Rosenzweig, was passiert, wenn jemand alle Dinge zu hinterfragen beginnt und sich damit aus seinem alltäglichen Leben hinauskatapultiert. Nichts erscheint einem auf diese Weise erkrankten Menschenverstand noch selbstverständlich. Gegenüber allem und jedem drängt sich ihm die Frage auf: Was ist dies und was ist jenes ›eigentlich‹? »Er denkt nach. Und da er den natürlichen Löser aller Stauungen, alles aufgestauten Staunens, den Fortfluß des Lebens seitab geleitet hat, da er, statt weiter zu denken - was man nur kann, wenn man weiter lebt - anfängt ›nach‹ zu denken. So bleibt ihm nun nichts andres übrig als - an der Stelle wo er steht - sich einzubohren in das ›Problem‹ [...].« Beim Versuch, den Dingen auf ihren unterstellten Grund zu gehen, verliert der Fragende den Boden unter den Füßen. Das Paradebeispiel für einen solchen Menschen ist für Rosenzweig der Philosoph: Über den Dingen schwebend scheint er Experte für alles Mögliche zu sein.
Auch der Protagonist in Rainald Goetz' Johann Holtrop, ein sogenannter finanzkräftiger Macher, gerät ins Philosophieren und erklärt sich dabei zum Experten für die Organisation von Arbeit: »Mehr Arbeit, mehr Glück, mehr Geld. Durch weniger Frechheit und mehr Freiheit käme es zu weniger Unglück und zu mehr Freude an der Arbeit. [...] Holtrop hatte sich mit den Arbeiterbewegungen seit den 1830er Jahren dahingehend auseinandergesetzt, dass er für sich selbst zu dem Schluss gekommen war, einen idealen KOMMUNISMUS für das entscheidende tertium comparationis oder zumindest non datur oder debitur zu halten, jedenfalls für sich und seine Arbeit im Office of Chairmann der Assperg AG.« Über die lateinischen Wendungen, die in der Regel Überlegenheit andeuten sollen, kommt der nachdenkliche Chairmann ins Stolpern. So ist das »tertium comparationis«, das gemeinsame Dritte, das Gegenteil vom »tertium non datum«. »Tertium non debitur« ist möglicherweise ein Schreibfehler und sollte ursprünglich »tertium non dabitur« - »ein Drittes wird es nicht geben« - heißen. Wie auch immer es um die Lateinkenntnisse von Holtrop steht: Er verzettelt sich, und zwar auf ganzer Linie. Am Ende scheitert nicht nur der spontane Kommunismus, in dem es nichts Gemeinsames gibt und niemals geben wird. Auch die bisher erfolgreich praktizierte Betriebswissenschaft des Helden fährt vor die Wand. Da steht er dann mit weniger Arbeit und weniger Glück und ist so dumm als wie zuvor. Denn er hat »keine Erfahrung damit, wie die Leere der inneren Räume, die sich ihm plötzlich in den Gefühlsregungen öffneten, zu begehen, zu verstehen, ins Lebensganze hinaus zurückzuübersetzen wäre, er wusste gar nicht, wie das geht, in Dialog mit seinem Ich zu leben. Ungeduldig fiel sein Blick wieder auf das Handy« - doch es klingelt nicht mehr. [...]