Ein halbes Jahrhundert nach der dokumentarischen Literatur der 1960erJahre ist gegenwärtig erneut eine literarische Hinwendung zu den Fakten auszumachen. Die Autoren dieser Erscheinungsform von Literatur interessieren sich wenig für Erfundenes, in ihren Romanen fabulieren und fingieren sie weniger, als sie real Erlebtes, Nachprüfbares erzählen, oft sehr ausführlich, von sich und anderen, und mitunter mit Einbezug von Klarnamen. Was motiviert eine solche entfiktionalisierte Literatur? Man kann mit Recht darauf beharren, dass Kunst Wahrheit zur Erscheinung bringt, so wie es Achim Geisenhanslüke in dieser Ausgabe von polar für die Literatur tut. Von der hehren Trias des ›Wahren, Schönen und Guten‹ ist dann immerhin der erste Begriff noch geblieben, allerdings in einer äußerst ernüchterten und gründlich modernisierten Version. Die Kunst und Literatur gerade der Gegenwart interessiert sich allerdings, so scheint es derzeit, viel eher noch für eine der Wahrheit komplementäre Vorstellung, die ihrerseits als deren Modernisierung gelten mag: für die Realität. Diese Hinwendung der Künste zum Dokumentarischen ist schon seit einigen Jahren zu beobachten, sie wurde schon in der ersten Ausgabe von polar 2006 diagnostiziert (Eggers/Richter in polar 1/2006): Im Kino haben abendfüllende Dokumentarfilme ihr Publikum gefunden, im Fernsehen ist das Reality-TV omnipräsent, und die neuen Formen des Doku-Theaters haben zu einer umfassenden Erneuerung und Pluralisierung der Gegenwartsdramatik geführt. In der Summe führt das dazu, dass die Grenze zwischen Kunst und Realität immer undeutlicher wird, oder: dass Kunst kein in sich abgeschlossener Vorstellungsraum mehr ist, sondern übergreift auf die Lebenswelt und diese, in ihrer für alle aktuellen, wirkenden Wirklichkeit (›wirklich‹ bedeutet, seiner mittelhochdeutschen Herkunft gemäß, ›tätig, wirksam, wirkend‹), mitgestaltet. Zwar muss ein einschränkendes Gegenargument akzeptiert werden: Auch wenn wir es mit einer Realitätskunst zu tun haben, so ist zu bezweifeln, dass diese sich häufig auf die Wirklichkeit aller auswirkt: Wer Karl Ove Knausgård liest, liest viel und erfüllt vermutlich einen überdurchschnittlichen Bildungsstandard, wer die Stücke von Rimini Protokoll sieht, ist intellektuell genug, sich fürs Theater zu interessieren. Aber auffällig realitätsaffin sind neben diesen Produkten der Hochkultur eben auch die Reality-Soaps, die eine ganz andere Zielgruppe erreichen und in ihrer hergestellten, künstlichen Wirklichkeit nicht nur das abgefilmte Leben der Stars gestalten, sondern auch die Selbstwahrnehmung ihres Publikums beeinflussen. [...]