Literarische Texte zeigen uns ein Abbild der Welt, in der wir leben. Sie erheben deshalb einen, meist unausgesprochenen, Anspruch auf Gültigkeit, oder eben: Wahrheit. Der Nachdruck, mit dem sich das, wovon sie erzählen, unserer Vorstellung und unserem Gedächtnis einprägt, zeugt davon. Worin aber besteht die Wahrheit der Literatur? Und wie steht sie zur philosophischen Wahrheit? Wahres verkünden?
Über den Dichter sagt Hesiod in der Theogonie, einem der frühesten Epen der europäischen Literatur, er wisse »Wahres zu verkünden«. Für Hesiod ist es selbstverständlich, dass die Dichtkunst einen Wahrheitsanspruch verkörpert, und ebenso selbstverständlich stattet er den Dichter in einer rituellen Initiationsgeste mit einem Lorbeerstab aus, um anzuzeigen, dass das Wissen des Dichters eine von Apoll legitimierte Form der Weissagung ist, die letztlich göttlichen Ursprungs ist.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Hesiod wie vor ihm Homer für die Dichtung beanspruchen, in ihren Texten Wahrheit zu verkünden, ist allerdings schnell geschwunden. Schon Platon wirft den Dichtern vor, dass sie nur über Trugbilder verfügen, keinesfalls aber über das gesicherte Wissen, das die Philosophie verlangt. Zwar schätzt noch Aristoteles den Dichter höher als den Historiker, weil der eine nur das wirklich Geschehene berichtet, der andere aber das, was nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit hätte geschehen können. Indem er dem Dichter den Bereich der Wahrscheinlichkeit zuordnet, ordnet Aristoteles ihn aber zugleich dem Philosophen unter, dem es allein vorbehalten bleibt, in das erhabene Reich der Wahrheit einzutreten. Die Frage nach der Wahrheit der Literatur verweist auf die alte Verwandtschaft wie Konkurrenz von Dichtung und Philosophie, die beide für sich beanspruchen, Wahres auszusagen.
Die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Literatur ist daher strittig. Sie lässt sich nicht einfach beantworten, weil die Dichter unter dem Druck der Philosophen schließlich selbst aufgegeben haben, einen so emphatischen Wahrheitsbegriff für sich in Anspruch zu nehmen, wie Hesiod ihn vertreten hat. Schon Horaz' berühmtes Diktum, die Literatur solle belehren und unterhalten, verzichtet ja auf den immer etwas überstrapazierten Begriff der Wahrheit: Lass die Philosophen reden, sich um Wahrheitsansprüche, Begründungszusammenhänge und anderes unnützes Zeug kümmern und uns einfach machen, lautete die Parole einer im wesentlich rhetorisch bestimmten Dichtung, die sich nicht länger in eine Konkurrenz zur Philosophie stellen wollte. [...]