Nach der Polizei und noch vor dem Bundespräsidenten genießt das Bundesverfassungsgericht höchstes Vertrauen in der Bevölkerung der Bundesrepublik. Die hohen Vertrauenswerte sind seit Jahrzehnten konstant; auch Urteile, die nicht auf die Zustimmung in der breiten Bevölkerung treffen, können diese Werte nicht wirklich beeinträchtigen. Demgegenüber schneiden Institutionen, die Interessenkonflikte artikulieren und austragen, in denen Mehrheiten entscheiden und deswegen Kompromisse gebildet werden, regelmäßig schlechter ab als Institutionen, die Streite nicht austragen, sondern schlichten. Als im Jahre 2012 der Euro-Rettungsschirm zu einer Verunsicherung in der Bevölkerung führte, legten rund 30.000 Bürger Verfassungsbeschwerde gegen die Zustimmungsakte des Bundestages in Karlsruhe ein. Halb Europa blickte nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht ließ den Euro-Rettungsschirm mit mahnenden Worten für die demokratische Letztverantwortung passieren; es legte in seinem Urteil darauf Wert, dass der Bundestag so gut informiert wird, um tatsächlich entscheiden zu können und nicht Vorformuliertes abnicken muss. Karlsruhe mahnte auch die europäischen Institutionen zur Einhaltung des Unionsrechts. Es stärkte also letztlich jene Institutionen, deren Vertrauenswerte gerade nicht so hoch entwickelt sind. Es überließ die Entscheidung in der Sache den politisch Zuständigen, wachte zugleich aber über den Rechtsrahmen, in dem politische Prozesse erfolgen, verantwortet und auch von der Wahlbürgerschaft kontrolliert werden können. Das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts verdankt sich nicht einer vermeintlich unpolitischen Rolle, sondern seiner Wächterfunktion in der Demokratie.
Stärkung des politischen Prozesses
Einerseits stärkt das Bundesverfassungsgericht den politischen Prozess, indem es Machtverlagerungen zwischen den Gewalten korrigiert: So stärkte es etwa die Rechte des Bundestages bei internationalen Abkommen, bei denen die Regierungen die Verhandlungen führen und der Bundestag vor ausverhandelte Tatsachen gestellt wird, die alternativlos zu sein vorgeben. Aber auch Gerichte werden vom Bundesverfassungsgericht gelegentlich in die Schranken gewiesen, wenn sie ihre rechtsprechende Gewalt unter der Hand in eine gesetzgebende verwandeln. So handelte etwa der Bundesgerichtshof verfassungswidrig, als er bei der Berechnung des Geschiedenen-Unterhalts eine neue Berechnungsmethode einführte, die mit der Zielsetzung des Eherechts nicht mehr vereinbar war. Auch hier greift das Bundesverfassungsgericht ein und korrigiert eine Machtverlagerung. Andererseits entzieht das Bundesverfassungsgericht dem politischen Prozess die Zuständigkeit für bestimmte Themen, etwa indem Kompetenzen verneint (»Herdprämie«) oder subjektive Belange als Grundrechtseingriff der Mehrheitsherrschaft entzogen werden. Insbesondere die Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht zielstrebig mit einer objektiven Schutzfunktion ausgestattet: Sie stellen nicht nur die Krönung des subjektiven Rechtsschutzes dar, sondern sind auch zu Vehikeln geworden, mit denen der einzelne Bürger politischen Einfluss ausüben kann. Sie wirken als Partizipationserzwingungsrechte gegenüber intoleranten Mehrheiten, als Hebel, mit dessen Hilfe subjektive Belange bei der Willens- und Kompromissbildung der politischen Institutionen beachtet werden müssen; sie wirken als Verfahrensgarantien oder Organisationsmaximen. Schließlich wirken Grundrechte mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch als einklagbarer Anspruch des Bürgers auf eine rationale Begründung von Gesetzen, die sich in einer Demokratie an sich nur über den Willen einer Mehrheit politisch, nicht aber sachlich rechtfertigen müssen. [...]