Nicht nur am Stammtisch, sondern auch in der Studierstube erwarten die meisten Beobachter von Abgeordneten, dass parlamentarische Entscheidungen »richtig« zu sein haben, pointierter ausgedrückt: dem Gemeinwohl entsprechen sollen. Parlamentarischen Entscheidungen soll eine offene Diskussion zugrunde liegen, in deren Verlauf alle Abgeordneten die Möglichkeit haben, ihren Standpunkt zu überdenken und zu verändern, um so der »besten« Lösung so nahe wie möglich zu kommen. Diese Erwartung legt Jürgen Habermas' mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns an parlamentarische Politik an. Dementsprechend stellen Gesetze für Habermas einen »Ausdruck der Vernunft« dar. Für Pierre Rosanvallon ist der Parlamentarismus zu einem »System von Absprachen im Dienste partikularer Interessen« verkommen, er möchte sogar Habermas' »monistische Auffassung der Volkssouveränität« überkommen. Deshalb soll eine dezidiert nicht durch Wahlen begründete »Legitimität der Unparteilichkeit« dafür sorgen, dass beispielsweise Verfassungsgerichte politische Entscheidungen korrigieren. Um es rundheraus zu sagen: Diese heroischen oder »romantischen« (Philip Manow) Erwartungen können unter demokratischen Bedingungen nicht erfüllt werden. Sie sind wenig dazu geeignet, den Zustand des Parlamentarismus zu beurteilen, sondern fördern notwendigerweise Krisenbefunde und damit auch Frustration zutage. Die auf der Grundlage dieser Erwartungen ausgerufenen »Krisen« sind dem Parlamentarismus und der Politik im Allgemeinen schlicht immanent. Die vielbeschworene Krise des Parlamentarismus ist zuvorderst eine Krise des Verständnisses von Parlamenten. Was richtig und gemeinwohlförderlich ist, erkennen wir in der Regel erst im Nachhinein. Nehmen wir als Beispiel die Ostpolitik Willy Brandts: zeitgenössisch hoch umstritten, von der Opposition vehement abgelehnt und letztlich wohl nur zustande gekommen, weil im Bundestag ein Misstrauensvotum gegen Brandt scheiterte, bei dem mindestens eine Stimme von der Stasi gekauft worden war. Brandts Ostpolitik als zentrale und definitiv gemeinwohlförderliche politische Weichenstellung der alten Bundesrepublik kam also nur mittels eines der schmutzigsten Tricks zustande, die der Parlamentarismus auf Lager hat: des Stimmenkaufs. Dies mag illustrieren, dass das zeitgenössische und das rückblickende Urteil bisweilen sehr gegensätzlich ausfallen. [...]