In kaum einem Film hat sich das Leben je so schön geformt wie in Richard Linklaters »Boyhood«. In 160 Minuten ereignen sich 12 Jahre, in denen der Junge Mason (Ellar Coltrane) vom Schulkind zum Studenten wird. Linklater ist ein konzeptioneller Regisseur: In »Slacker« (1991) ist er durch seine Heimatstadt Austin an jeder Straßenecke in ein anderes Leben abgebogen, hat die Identität der Gesellschaftswahrnehmung, die normalerweise durch eine Figur repräsentiert wird, aufgebrochen in eine Vielheit von Geschichtsfragmenten, die sich dann wiederum zu Gesellschaft addieren. In »Dazed and Confused« (1993) konzentriert sich die Handlung der jugendlichen Protagonisten auf den Tag des Schulabschlusses als Schwelle, von der aus sich die Gemeinschaft in lauter Einzelleben zerstreuen wird. Die »Before«-Trilogie (1995, 2004, 2013) mit Julie Delpy und Ethan Hawke schließlich spielt, konzentriert auf eine Nacht, die Paarziehung in verschiedenen Aggregatzuständen des Amourösen durch.
»Boyhood« schlägt alle diese Versuche, den Lebensausübungen eine klar zu erkennende Form zu geben. Wo sich »Slacker« durch den Raum ausdehnt, entwickelt sich »Boyhood« in die Zeit: Linklater hat 12 Jahre drehen müssen, um auf 160 Minuten verdichten zu können. Und der größte Luxus - die Zeit (so lange gedreht, an einem Projekt gearbeitet zu haben) -, wird in der Erzählung eben nicht ausgestellt. In den Joseph-Romanen von Thomas Mann gibt es den schönen Satz, dass man über die Jahre der Plagen und des Exils in Ägypten, die erzähltechnisch unglaublich redundant sind, nichts anderes sagen könne, als dass sie vergingen. Für dieses Vergehen der Zeit findet »Boyhood« eine Form - etwa in der Gestalt des Vaters (Ethan Hawke), der als erster Enttäuscher der Mutter (Patricia Arquette) im Laufe des Films zu größerer Stabilität findet als diese.
Damit wäre auch die Kritik formuliert, die man an den Lebensformen äußern kann, die »Boyhood« ausmalt: Der Film erzählt seine melancholische, relativ geborgen-ereignislose Coming-of-Age-Geschichte aus einer Perspektive, die, als männlich, weiß und heterosexuell beschrieben, eine privilegierte ist.
Welchen Aufwand es braucht, diese Privilegien zu verteidigen gegen die eigenen Ängste, führt Philippe de Chauverons Komödie »Monsieur Claude und seine Töchter« vor. Der Film, den in Frankreich 12 Millionen Menschen sehen wollten, ist 2014 zum Überraschungserfolg in den deutschen Kinos geworden. Erzählt wird von einem Franzosenfranzosen, der vier erwachsene Töchter hat (ihr gutes Aussehen charakterisiert sie erschöpfend, sic). Die heiraten alle jene Minderheiten, die dem Alteuropäer in den Medien wenn nicht Furcht einflößen, so doch Unwohlsein bereiten: einen Juden, einen Moslem, einen Chinesen und, das schlägt dem Fass den Boden aus (sic) und spannt den Bogen, einen Schwarzen. [...] |