Stephan Lessenich Alles so schön jung hier? Lebensführung im Alter
|
 |
Wolfgang KaschubaSchnelle FluchtenVom Umgang mit der Zeit |
Dass die Zeit nur so dahinrast, gehört heute zu den gängigen Bildmotiven und Gesprächsfloskeln. Offenbar drückt sich in dieser Metapher unser Lebensgefühl ganz unmittelbar aus: im demonstrativen Verweis auf Tempo, Hektik, Zeitnot, Stress als wesentlichen Komponenten unseres Alltags. Dabei ist dieses Bild streng genommen falsch. Nicht abstrakte Zeitläufte rasen vor sich hin, sondern ganz konkrete Hamsterräder, denen wir uns ausgeliefert fühlen und die wir zugleich selbst mit antreiben.
Zudem ist das Bild zivilisationsgeschichtlich noch recht jung: Unseren Vorfahren wäre es bis vor rund 200 Jahren weithin unverständlich gewesen, denn Zeit und Geschwindigkeit waren für sie keine wirklich interessanten Themen. Zeit schien sich für sie wie in einer geschichtlichen Dauerschleife zu wiederholen. Und die maximale Geschwindigkeit hatte sich für sie über zwei Jahrtausende hinweg vom ägyptischen Streitwagen bis zur Reisekutsche König Ludwigs XIV. kaum erhöht: Mehr als gut 20 km/h Spitze waren beim Rennen, Reiten, Fahren, Nachrichten Übermitteln selten drin. Die Zeit- und Geschwindigkeitsgefühle bewegten sich bis dahin also in einer menschheitsgeschichtlichen wie anthropologischen Konstante. An Tempo und Rasen dachte noch niemand. Heute wissen wir, dass Geschwindigkeit einerseits eine messbare Bewegung im Raum ist. Sie ist andererseits aber auch an menschliche Wahrnehmung gebunden. Und beides geht oft nicht konform. Schnell oder langsam ist auch eine Kopf- und Bauchsache, abhängig von Erfahrungen und Erwartungen, von Sichtweisen und Situationen. Denn wie wir wahrnehmen, ist primär »kulturell« organisiert: geknüpft an subjektive Empfindungen wie an historische und gesellschaftliche Deutungen von Raum und Zeit.
Der getöte Raum Dramatisch beschleunigt wird die historische Welt also erst nach 1800. Da ermöglicht die Schnellpost mit ihrem technisch-logistischen System fester Fahrpläne, chaussierter Straßen und regelmäßiger Pferdewechsel zunächst ein geplantes und zügiges Reisen. Dann explodieren Geschwindigkeit und Mobilität förmlich mit dem europäischen Siegeszug der Eisenbahn. Durch die doppelte, bald vierfache Fahrtgeschwindigkeit entstehen nun völlig neue Räume, Landschaften und Erfahrungsweisen der Moderne. Heinrich Heine notiert diese Vision 1843 auf der Fahrt mit der ersten französischen Eisenbahnlinie von Paris nach Rouen: »Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns noch die Zeit übrig. (...) Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.« [...] |

|
Alexandra Deak/Arnd Pollmann Marinieren, Tranchieren, Ignorieren Der exorzistische Kult ums Essen
|
Johanna Gonçalves Martín Leben geben Geburten in Amazonien und im Westen
|
Arnd Pollmann/Bertram Lomfeld/ Stefan Huster/Peter Siller Ist es links? >Veggieday<
|
Ina Kerner Leben im Kapitalismus: >Die Leiter zum Eigenheim<
|
Ulrike Martiny Straßenreiniger und Müllwerker Wenn Flexibilisierung auf Familialisierung trifft
|
Tatjana Hörnle Am Beispiel des Niqab Zu den rechtlichen Grenzen von Lebensformen
|
Michael Eggers Wie spricht man über die Einrichtung des Alltags? Zur undeutlichen Evidenz der Literatur
|
Julia Roth It’s fucking political! Die notwendige Kritik normativer Lebensformen
|
Kerstin Carlstedt Warenhaus Hamburg Mit Martin für einen Euro sechzig unterwegs
|
Susann Neuenfeldt/Simon Strick Hallo Karthago/Hallo Rom: >Wir leben, und sind nicht allein<
|
Johanna-Charlotte Horst Mein halbes Jahr: ›Literatur‹ Franz Kafka – Michel Leiris – Gilles Deleuze
|
Christoph Raiser Mein halbes Jahr: ›Musik‹ Von Spar – Der Mann – Erfolg
|
Matthias Dell Mein halbes Jahr: ›Film‹ Boyhood – Monsieur Claude und seine Töchter – Honig im Kopf
|
Thomas Biebricher Kraaaaaah Von Vögeln und Menschen: Pete Docters Oben
|
Niklas Henning Dreck-an-sich Matter out of Place: Müll bei Mary Douglas und Julia Kristeva
|
Franziska Humphreys Eltern an der Macht Eine Art Selbstrekrutierung: Vom Kinderladen zur crèche parentale
|
Johannes Kleinbeck Gemeinsam allein Gefühlsleben als Schicksal der Gesellschaft: Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft
|
Arthur Lochmann Nicht gestattet Lebensform und Bestrafung: Foucaults La Société Punitive
|
Bertram Lomfeld In der Identitätsfalle Intellektuelle Vielfalt: Gegenentwürfe zu Huntingtons Kampf der Kulturen
|
Malin Nagel Alle mal mitkommen Gut für dich und den Rest der Welt: Jens Rachuts Alte Sau
|
Anna Sailer Smartphone mit Gewissen Die Unerträglichkeit des guten Lebens: »Heldenmarkt« ohne Helden
|
Friederike Alberty Mittelschicht unter Druck Vom Fahrstuhl zur Wagenburg: Cornelia Koppetschs Die Wiederkehr der Konformität
|
Patrick Thor Auf dem Gleis Nichts läuft (von) allein: Bong Joon-ho’s Snowpiercer
|