Öffentliche Debatten weisen meist einen hohen Grad an Polarisierung auf, wenn kulturelle und religiöse Gebräuche beurteilt werden, die von dem abweichen, was aus der Sicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft vertraute Lebensformen sind. Dies ließe sich anhand vieler Stich- oder Reizwörter verdeutlichen: Beschneidung, Schächten, oder, was hier näher erörtert werden soll, die Burka - wobei dieses Kleidungsstück (Ganzkörperverhüllung mit gitterartigem Stoff im Gesichtsfeld) in Europa seltener zu sehen ist als der Niqab (Gesichtsschleier mit Sehschlitzen).
Verbote in Frankreich und Belgien
Der Niqab, auf der Arabischen Halbinsel weit verbreitet, ist zunehmend auch in anderen islamisch geprägten Ländern zu finden sowie, wenn auch deutlich seltener, in Europa. Einige europäische Rechtsordnungen verbieten es, im öffentlichen Raum das Gesicht zu verhüllen, so seit 2011 Frankreich und Belgien. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im letzten Jahr befunden, dass das französische Gesetz die Beschwerdeführerin nicht in ihren Rechten aus der Europäischen Konvention für Menschenrechte verletze. Es sei zulässig, auf ein Recht anderer Personen abzustellen, »to live in a space of socialisation which makes living together easier«. Außerdem sei im Verhältnis von Staat und Religionen dem nationalen Gesetzgeber Spielraum zuzugestehen. Das Gericht, das die Zügel seiner Überwachungsintensität im Wechsel anzieht und wieder locker lässt, hat sich bei diesem Thema für »lockere Zügel« entschieden. Der deutsche Gesetzgeber müsste nicht mit Protest aus Straßburg rechnen, wenn eine entsprechende Verbotsnorm erlassen würde. Die entscheidende Frage ist allerdings: Wäre dies zu empfehlen?
Simple Verbotsforderungen und kulturalistische Weichzeichner
Die Antwort sollte sowohl kurzschlüssig-hysterische Verbotsforderungen als auch Verdrängungen und Verleugnungen der problematischen Aspekte von Gesichtsverschleierung vermeiden. Die Realität in deutschen Debatten sieht freilich anders aus: Es überwiegen Extrempositionen.
Am einen Ende des Spektrums finden sich Verbotsforderungen, die nicht das Resultat einer abgewogenen Auseinandersetzung sind. Simple Verbotswünsche gehen im ungünstigsten Fall auf Ressentiments gegenüber »dem Fremden« zurück. Oder sie beruhen auf Überlegungen, die durchaus in die Abwägung eingehen sollten, aber in einseitiger Weise übergewichtet werden. Typisch dafür sind Beiträge von Alice Schwarzer. Sie benennt in aller Deutlichkeit die negativen Auswirkungen von Verschleierung als soziale Praxis, verkennt aber die tragende Rolle, die nach unserer Verfassung den Selbstbestimmungsrechten zukommt. [...]