Wenn man zulässt, dass soziale Lebensformen zum Gegenstand von Reflexion und Kritik werden, dann stellt sich die Frage, in welcher Form das geschehen kann. Der Austausch von Argumenten über die kulturellen und gesellschaftlichen Grundlagen von Lebensformen wird unvermeidlich abstrakt. Theoretische Debatten aber erreichen nur wenige, auch wenn ihre Themen alle angehen. Doch es gibt ein kritisches Medium, das direkter kommuniziert und sich am Anschauungsmaterial des Lebens selbst bedient: die Literatur.
Im Jahr 1776 erlebt Johann Wolfgang Goethes Stück Stella seine Uraufführung, noch im selben Jahr erscheint es im Druck. Es ist ein fünfaktiges »Schauspiel für Liebende«, so der Untertitel, das seiner Form und Sprache nach den Erwartungen der Zeit entspricht: Wie schon im Clavigo zwei Jahre zuvor, entwirft Goethe eine amourös und erotisch aufgeladene Konfliktsituation, die, scheinbar ausweglos, die Figuren zu zahlreichen gestischen und verbalen Gefühlsbekundungen antreibt. Die empfindsame, nicht nur lebenspraktisch oder sexuell veranlasste, sondern seelisch und daher existenziell gelebte Liebe ist das Thema, das die Bildungsbürger des späten 18. Jahrhunderts bewegt und das im unglücklich endenden Schema des Trauerspiels seine ästhetische Dringlichkeit erhält. Gerade dieses Schema aber durchbricht Goethe: Das Drama des untreuen, zwischen Ehefrau und Geliebter unentschieden schwankenden Mannes führt in diesem Fall nicht in die Katastrophe, sondern zu einer verträglichen, ja sogar harmonischen Lösung, die jedoch moralischen Sprengstoff birgt - das Schlussbild zeigt drei einander Liebende in inniger Umarmung, eine ménage à trois, auf Dauer gestellt. Wenn eine Entscheidung für eine der beiden Frauen mindestens eine der Beteiligten ins Unglück stürzt, wir uns aber ohnehin alle drei lieben, dann bleiben wir einfach zusammen, so lautet die verblüffend simple Idee - die aber den zeitgenössischen Sittenkodex sprengt. Wenig überraschend, dass die Uraufführung einen Skandal auslöste und über das Stück ein Aufführungsverbot verhängt wurde.
Hier wird der Finger in eine Wunde gelegt: Die historisch gerade erst erfundene Lebensform der selbst gewählten, bürgerlichen Ehe von Mann und Frau wird nicht nur als sicherer Hafen empfunden, der eine leidenschaftliche Liebe verstetigt und mit der Geburt von Kindern bestätigt, sondern vielleicht auch als Gefängnis für das gerade erst sich seiner freien Entfaltungsmöglichkeiten bewusst werdende Individuum. Es ist ein Widerspruch, den die austragen und aushalten müssen, die an der Herausbildung einer neuen, im Vergleich zur bisherigen fundamental gewandelten Gesellschaftsstruktur aktiv teilnehmen. Nicht nur der Widerspruch selbst wird in Goethes Stück und den aufgeregten Reaktionen darauf eklatant sichtbar, sondern auch, dass er noch kaum öffentlich wahrgenommen worden ist, von der Frage nach seinen Auswirkungen und der Suche nach Lösungsmöglichkeiten ganz zu schweigen.
Dass Goethe seine Provokation - und auch in diesem Punkt erfüllt er die Erwartungshaltung - nur mit Frauenfiguren wagt, deren Konturen in ihrem Gefühlsdusel und ihrem vorauseilend schlechten Gewissen verschwimmen, dass er dieses Stück (wie viele andere seiner Texte) außerdem zur öffentlichen Wäsche seines eigenen, von unredlich beendeten Affären belasteten Gewissens benutzt, nimmt ihm aus heutiger Sicht viel von seinem literarischen Wert. Dennoch ist es zu seiner Zeit nicht nur ein außerordentliches Wagnis, sondern auch der Index eines keineswegs nur individuellen Problems, mit dem wir bis heute kämpfen: Wie lässt sich das eheliche Treueversprechen, wenn es aus einer seelisch tief empfundenen Liebe folgt und aus freien Stücken eingegangen wird, mit der Selbstverwirklichung vereinbaren, die die moralisch und sexuell liberalisierte Gesellschaft den Einzelnen verspricht? [...] |