polar #18: Politik der Lebensformen
EDITORIAL
AUSWEG
Rahel JaeggiExperimenteller PluralismusLebensformen als Experimente der Problemlösung | Ist eine Kritik von Lebensformen möglich? Ist es sinnvoll, Lebensformen als gut, erfolgreich oder rational zu bezeichnen? Seit Kant gilt gemeinhin, dass sich Glück oder das gute Leben im Unterschied zum moralisch Richtigen nicht philosophisch bestimmen lassen. Und seit John Rawls gilt zumindest in vielen Fällen, dass der ethische Inhalt von Lebensformen aufgrund des irreduziblen ethischen Pluralismus moderner Gesellschaften nicht den Gegenstand von philosophischen Disputen darstellen kann. Die Philosophie zieht sich demnach aus dem Bereich der sokratischen Frage, ›wie wir leben sollen‹ zurück, während sich die politische Ordnung des liberalen Verfassungsstaates als eine Möglichkeit präsentiert, eine friedliche Koexistenz zwischen verschiedenen Lebensformen zu organisieren, die aber diesen gegenüber selbst ihre Neutralität wahrt. Sobald wir uns nicht mehr damit beschäftigen, was eine gute gemeinsame Lebensform auszeichnen sollte, kommt es zu einer Privatisierung der normativen Fragen nach der Art und Weise unserer Lebensführung. Sie werden in den Bereich reiner Präferenzen verschoben, die nicht weiter hinterfragbar sind und so zu Identitätsaspekten werden, die sich weiterer Analyse entziehen. Ähnlich wie über Geschmack lässt sich dann auch nicht länger über Lebensformen streiten.
Ich werde versuchen zu zeigen, dass entgegen dieser Herangehensweise an die Thematik, die Beweislast umgekehrt werden sollte: Fragen bezüglich der Lebensformen in denen wir existieren, können nicht einfach aus individuellen und kollektiven Deliberationsprozessen extrahiert werden. Jede soziale Formation hat immer schon eine spezifische Antwort auf sie. Und das gilt auch für diejenige soziale Form, die den Pluralismus von Lebensformen zu ihrem besonderen Anliegen gemacht hat. Dies würde bedeuten, dass die Frage nach der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen in gewisser Weise noch nicht angemessen formuliert worden ist. Nicht trotz, sondern gerade wegen der pluralistischen Verhältnisse, die moderne Gesellschaften kennzeichnen, kann die Möglichkeit einer solchen Kritik nicht im Bereich partikularistischer Präferenzen und Festlegungen jenseits unseres Reflexionsvermögens entsorgt werden. Die kritische Analyse bezieht sich auf eine Praxis, der wir uns in mehrerlei Hinsicht nicht entziehen können. Wir nehmen immer schon an ihr teil. Dies wird vor allem in Situationen sozialer Konflikte und Umbrüche deutlich. Solche Situationen können sich ergeben, wenn bislang unhinterfragte ethische Prinzipien plötzlich durch neue Technologien in Frage gestellt werden oder wenn etablierte soziale Praktiken problematisiert werden. Oder sie ergeben sich, wenn die (›interne‹ oder ›externe‹) Konfrontation mit anderen Lebensformen zu Krisen des Selbstverständnisses führen. In solchen Fällen stößt die ›ethische Abstinenz‹ des politischen Liberalismus an ihre Grenzen. Das Projekt einer Kritik der Lebensformen ist daher gleichzeitig einer Art Ideologiekritik bezüglich der liberalen Neutralitätsthese, d.h. der grundsätzlich liberalen Vorstellung, dass soziale Institutionen gegenüber partikularen Lebensformen und den individuellen ethischen Bezugspunkten neutral sein können und sollen. [...] |
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| Peter Siller Macht es nicht selbst! Vom RĂĽckzug des Politischen ins Private geschlossener Lebensformen
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