Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #18: Politik der Lebensformen




EDITORIAL

 
Peter Siller/Bertram Lomfeld
Editorial



AUSWEG

 

Rahel Jaeggi

Experimenteller Pluralismus

Lebensformen als Experimente der Problemlösung


Ist eine Kritik von Lebensformen möglich? Ist es sinnvoll, Lebensformen als gut, erfolgreich oder rational zu bezeichnen? Seit Kant gilt gemeinhin, dass sich Glück oder das gute Leben im Unterschied zum moralisch Richtigen nicht philosophisch bestimmen lassen. Und seit John Rawls gilt zumindest in vielen Fällen, dass der ethische Inhalt von Lebensformen aufgrund des irreduziblen ethischen Pluralismus moderner Gesellschaften nicht den Gegenstand von philosophischen Disputen darstellen kann. Die Philosophie zieht sich demnach aus dem Bereich der sokratischen Frage, ›wie wir leben sollen‹ zurück, während sich die politische Ordnung des liberalen Verfassungsstaates als eine Möglichkeit präsentiert, eine friedliche Koexistenz zwischen verschiedenen Lebensformen zu organisieren, die aber diesen gegenüber selbst ihre Neutralität wahrt. Sobald wir uns nicht mehr damit beschäftigen, was eine gute gemeinsame Lebensform auszeichnen sollte, kommt es zu einer Privatisierung der normativen Fragen nach der Art und Weise unserer Lebensführung. Sie werden in den Bereich reiner Präferenzen verschoben, die nicht weiter hinterfragbar sind und so zu Identitätsaspekten werden, die sich weiterer Analyse entziehen. Ähnlich wie über Geschmack lässt sich dann auch nicht länger über Lebensformen streiten.

Ich werde versuchen zu zeigen, dass entgegen dieser Herangehensweise an die Thematik, die Beweislast umgekehrt werden sollte: Fragen bezüglich der Lebensformen in denen wir existieren, können nicht einfach aus individuellen und kollektiven Deliberationsprozessen extrahiert werden. Jede soziale Formation hat immer schon eine spezifische Antwort auf sie. Und das gilt auch für diejenige soziale Form, die den Pluralismus von Lebensformen zu ihrem besonderen Anliegen gemacht hat. Dies würde bedeuten, dass die Frage nach der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen in gewisser Weise noch nicht angemessen formuliert worden ist. Nicht trotz, sondern gerade wegen der pluralistischen Verhältnisse, die moderne Gesellschaften kennzeichnen, kann die Möglichkeit einer solchen Kritik nicht im Bereich partikularistischer Präferenzen und Festlegungen jenseits unseres Reflexionsvermögens entsorgt werden. Die kritische Analyse bezieht sich auf eine Praxis, der wir uns in mehrerlei Hinsicht nicht entziehen können. Wir nehmen immer schon an ihr teil. Dies wird vor allem in Situationen sozialer Konflikte und Umbrüche deutlich. Solche Situationen können sich ergeben, wenn bislang unhinterfragte ethische Prinzipien plötzlich durch neue Technologien in Frage gestellt werden oder wenn etablierte soziale Praktiken problematisiert werden. Oder sie ergeben sich, wenn die (›interne‹ oder ›externe‹) Konfrontation mit anderen Lebensformen zu Krisen des Selbstverständnisses führen. In solchen Fällen stößt die ›ethische Abstinenz‹ des politischen Liberalismus an ihre Grenzen. Das Projekt einer Kritik der Lebensformen ist daher gleichzeitig einer Art Ideologiekritik bezüglich der liberalen Neutralitätsthese, d.h. der grundsätzlich liberalen Vorstellung, dass soziale Institutionen gegenüber partikularen Lebensformen und den individuellen ethischen Bezugspunkten neutral sein können und sollen. [...]


 
Stefan Huster
In Freiheit leben
Die transformative Kraft einer liberalen Ordnung
 
Peter Siller
Macht es nicht selbst!
Vom RĂĽckzug des Politischen ins Private geschlossener Lebensformen
 
Anna-Catharina Gebbers
Leben als Gesamtkunstwerk
Wagner – Beuys – Schlingensief
 
Lauren Berlant
Grausamer Optimismus
Warum Fantasien des guten Lebens scheitern
 
Thomas Schramme
Die Formung des menschlichen Lebens
Nachdenken ĂĽber Mills Idee der Lebensexperimente
 
Christian Neuner-Duttenhofer
Abgetaucht
Warum wir politisch an uns selbst scheitern



ALLTAG

 
Stephan Lessenich
Alles so schön jung hier?
LebensfĂĽhrung im Alter
 
Wolfgang Kaschuba
Schnelle Fluchten
Vom Umgang mit der Zeit
 
Alexandra Deak/Arnd Pollmann
Marinieren, Tranchieren, Ignorieren
Der exorzistische Kult ums Essen
 
Johanna Gonçalves Martín
Leben geben
Geburten in Amazonien und im Westen
 
Arnd Pollmann/Bertram Lomfeld/ Stefan Huster/Peter Siller
Ist es links? >Veggieday<
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus: >Die Leiter zum Eigenheim<
 
Ulrike Martiny
StraĂźenreiniger und MĂĽllwerker
Wenn Flexibilisierung auf Familialisierung trifft
 
Tatjana Hörnle
Am Beispiel des Niqab
Zu den rechtlichen Grenzen von Lebensformen
 
Michael Eggers
Wie spricht man ĂĽber die Einrichtung des Alltags?
Zur undeutlichen Evidenz der Literatur
 
Julia Roth
It’s fucking political!
Die notwendige Kritik normativer Lebensformen
 
Kerstin Carlstedt
Warenhaus Hamburg
Mit Martin fĂĽr einen Euro sechzig unterwegs
 
Susann Neuenfeldt/Simon Strick
Hallo Karthago/Hallo Rom: >Wir leben, und sind nicht allein<
 
Johanna-Charlotte Horst
Mein halbes Jahr: ›Literatur‹
Franz Kafka – Michel Leiris – Gilles Deleuze
 
Christoph Raiser
Mein halbes Jahr: ›Musik‹
Von Spar – Der Mann – Erfolg
 
Matthias Dell
Mein halbes Jahr: ›Film‹
Boyhood – Monsieur Claude und seine Töchter – Honig im Kopf



AUTONOMIE

 
Christoph Menke
So sind sie – So leben sie
Autonomie und Befreiung
 
Christian Berkes
Airbnb, Wohntourismus
20 Thesen zum Plattformkapitalismus am konkreten Fall
 
Viktor TĂłth
Techno als Lebensform?
Ein Selbstexperiment
 
Martin Saar
Bildpolitik: >Heimatschutz<



SCHÖNHEITEN

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