Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl hat eine Poetik des ökonomischen Menschen (2004) verfasst und sucht auf diesen Spuren auch nach dem Gespenst des Kapitals (2010). In unserem Interview spricht er über Schulden als ursprünglichen moralischen Maßstab, die Ökonomie als Moralphilosophie und den Krieg als Vater aller ökonomischen Dinge.
Herr Vogl, warum interessieren Sie sich für Schulden?
Weil Schulden eine elementare Recheneinheit im Menschenverkehr sind. Und weil sie eine phantastische Vielfalt von tragischen und komischen Verwicklungen auf die Welt gebracht haben. Der Spaß des Gläubigers ist der Verdruss des Schuldners, der selbst wieder einigen Lustgewinn daraus beziehen kann, Bankrott zu gehen und sich auf und davon zu machen. Ohne Schuldverhältnisse gäbe es keine tragischen und komischen Helden.
Was sind denn Schulden überhaupt? Geld, das man nicht hat, oder Geld, das es gar nicht gibt?
Schulden sind ein Schöpfungsakt. Mit ihnen entsteht etwas, das vorher nicht da war: eine Verpflichtung, ein Band. Schulden sind damit ein erster moralischer Maßstab, und sie sind materiell und immateriell zugleich - mit ihnen wiegt das, was man hat und besitzt, genauso schwer wie das, was man nicht hat.
Zur Grundannahme der wirkmächtigsten ökonomischen Theorien gehört stets der Tauschhandel, der am Anfang unserer Kultur gestanden haben soll und der aus pragmatischen Gründen zur Erfindung des Geldes geführt habe. Dies unterstellt, dass dem Geld, wie beim Warentausch, ein konkreter Wert entspricht. Hier aber widerspricht der Ethnologe David Graeber in seinem Buch: Am Anfang, so sagt er, habe vielmehr das Kreditwesen gestanden, das durch Verpflichtung und Versprechen funktioniere, also ein Schuldensystem. Stimmen Sie den Thesen zu?
Natürlich stimme ich Graeber zu. Vielleicht sollte man aber ein paar Dinge sortieren, um die ökonomischen Sachverhalte scharf zu stellen. Wenn man unser Wirtschaftssystem verstehen will, muss man etwa die doppelte Buchführung kennen, eine ganz wesentliche ökonomische Erfindung im Ausgang des Mittelalters.
Die doppelte Buchführung hat die Null in unser Zahlensystem eingeführt.
Genau. All das verdankt sich der Einführung der arabischen Zahlen im Oberitalien des 14. Jahrhunderts. Die arabischen Zahlen kannten eben die Null und damit einen Sachverhalt, der für das abendländische Denken vorher schlicht undenkbar gewesen wäre: eine Zahl, die selbst nichts bedeutet, aber die Bedeutung aller anderen Zahlen hervorbringt. Mit anderen Worten: ein Meta-Zeichen, ein reiner Platzhalter. Erst die Null erlaubte es, jedes Haben gleichzeitig als Nicht-Haben zu verrechnen, jeden Aktivposten zugleich als Debit. Damit wurden Schulden ganz konkret zu einem arithmetischen Operator, es gibt kein Plus ohne Minus.
Das Aufzeichnungssystem der doppelten Buchführung stellt dann eine ganz neue Ontologie der Dinge her: Es weist jedem Ding einen Platz zu, an dem es da ist, und einen Platz, an dem es fehlt. Wenn etwas hier ist, dann muss es dort fehlen. Alles ist fort und da zugleich. Zudem hat die doppelte Buchführung ökonomische Praktiken radikal verändert. Zum Beispiel wurde nun das Kaufmännische zu einem eigenen Beruf und spaltete sich vom Beruf des Transportunternehmers ab. Das Kontor wurde zur Papiermaschine. Das zeigen Illustrationen aus der frühen Neuzeit ganz wunderbar: Der Kaufmann ist von seinen verführerischen Gütern und Reichtümern umgeben, von Gewürzsäcken und anderen Kostbarkeiten; er selbst aber ist nur in seine Geschäftsbücher versunken. [...]
Das Interview führte Ronald Düker. Es erschien erstmals in Literaturen 106 (Sommer 2012).