Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Angst. Statistiken zeigen, dass überall in Europa die Menschen sich mehr um ihre Zukunft sorgen, dass sie mehr um ihre Sicherheit fürchten und ihren Besitzstand bedroht fühlen: Lagen der Angst. In ganz Europa. Warum hat sich dann der Begriff der German Angst in den Köpfen festgesetzt und nicht etwa die fear française? Bei der Recherche zum Thema fällt zunächst auf, dass keine*r so genau zu wissen scheint, seit wann es den Begriff überhaupt gibt. Und diese Frage ist essentiell, denn der Entstehungszeitpunkt könnte Aufschluss über den Entstehungsgrund und damit die Belastbarkeit des Begriffs geben. Stattdessen wird er diffus in unterschiedlichen Zusammenhängen von verschiedenen Akteuren*innen gebraucht, womit sich die Frage nach der Intention der Verwendung quasi aufdrängt. Denn German Angst ist zweifellos ein Kampfbegriff. Dessen Nebulösität tarnt den Kämpfer und prophezeit sich damit durch Unbedarftheit eher selbst, als auf validen Grundlagen zu beruhen.
»Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen«…
…lautet der Titel eines der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Darin hat ein vermeintlicher »Dummbart« vor nichts Angst, hält aber das Erlernen des Grusels für essentiell und schafft es durch seine scheiternden Versuche, ein Königreich sowie die obligatorische Prinzessin für sich zu gewinnen. Insofern Emotionen und der Umgang mit denselben speziell in den deutschsprachigen Ländern im frühen 19. Jahrhundert (Romantik) bzw. späten 19./frühen 20. Jahrhundert (Freud et. al.) Konjunktur hatten, wäre möglicherweise hier ein Ursprung zu vermuten, da der aus dieser Zeit stammende Begriff Weltschmerz in die englische Sprache ebenso übernommen wurde, wie die (German) Angst. Es würde für diese Zeit nahe liegen, insofern die Deutschen sich im 19. Jahrhundert erst als Nation erfunden haben und sich eben durch Pluralität und nicht durch Verbundenheit auszeichneten. Aber Angst haben »die Deutschen« bis einschließlich 1945 doch eher verbreitet als gehabt, oder?
»Die Briten« verstehen unter angst allerdings vor allem eine unklare Existenzangst, wenn sie den Begriff auf Deutsch verwenden, die man auch mit Ungewissheit oder Unbestimmtheit (Martin Heidegger, 1927) gleichsetzen könnte, also weniger eine Angst, die im Gegensatz zu einer kriegerischen Tapferkeit stehen könnte. Heideggers Überlegungen aus den 1920er Jahren basieren auf der Unterscheidung zwischen Angst und Furcht, womit er Søren Kierkegaards Ausführungen hierzu für den dänischen Sprachraum folgt. Dabei bleibt die Angst im Gegensatz zur Furcht, die immer nach der Konkretisierung sucht (Furcht vor was?), unkonkret und chaotisch. Gegen Furcht kann man Argumente vorbringen, aber Angst hat man eben einfach. Es ist ein state of mind, kein körperliches Gefühl, keine Emotion im klassischen Sinne – so die Sprachwissenschaftlerin Anna Wierzbicka. Wierzbicka geht der semantischen Unterscheidung von Furcht und Angst, die Heidegger erkannte, auf den Grund und stellt in einem europäischen Sprachvergleich fest, dass im Deutschen Furcht und Angst tatsächlich anders verwendet werden als beispielsweise fear und anxiety im Englischen. Sie führt dies auf die Bibelübersetzung Martin Luthers ins Deutsche zurück und zeigt auf, dass Luther Angst dann verwendet hat, wenn es um Bezüge zu Tod, Teufel oder zu der Hölle ging, um abstrakte, beunruhigende, irrationale Phänomene also, über die wir wenig wissen. Geht es hier also um die Seelenbe- oder -zuschreibung einer »Volksgemeinschaft«, die durch Luthers Übersetzung in die Wege geleitet wurde und sich so in das kulturelle Sprach- und damit Emotionsgedächtnis der Deutschen gefressen hat – ähnlich der »russischen Schwermut« und dem »britischen Humor«? Hat der angloamerikanische Sprachraum also den Begriff der German Angst deswegen geprägt, weil in ihrer Sprache durch fear und anxiety die Idee der Angst nicht abgebildet werden konnte? [...]