Kann es sein, dass German Angst damit zusammenhängt, dass 30 Jahre lang über die Schrecken von Krieg und Vertreibung öffentlich kaum gesprochen wurde? Wenn ja, wie mag sich das Verschweigen der Gewalterfahrungen in der Generation der Kriegskinder kulturell ausgewirkt haben? Welche Spuren zeigen sich im politischen Handeln und vor allem im Unterlassen? Wer sich mit der Frage befasst, wie und wo der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg bis heute nachwirken, begibt sich auf dünnes Eis. Man findet kaum gesicherte Antworten, keine zuverlässigen Zahlen, keine messbaren Ergebnisse, wie ein seriöses psychologisches Experiment sie vorzuweisen vermag. Dass die Deutschen kaum noch in der Familie oder im Freundeskreis zusammensitzen und singen, trifft zu. Dass im Kindergarten noch freudig Lieder gelernt werden, während in der Grundschule gemeinsames Singen immer seltener geübt wird, gehört ebenfalls zu den überprüfbaren Realitäten. Aber dass wir es hier mit einer Folge der nationalsozialistischen Unkultur zu tun haben, wie soll man das nachweisen angesichts so vieler Faktoren, die am Verschwinden von Traditionen beteiligt sind? Für den linken Barden Franz-Josef Degenhardt bestanden Ende der sechziger Jahre keinerlei Zweifel. In einem Lied beklagte er den Verlust des gemeinsamen Singens und die Vergiftung unserer alten Lieder, die »von braunen Horden zersungen« worden seien.
Ohne einigermaßen verlässliche Zahlen ist es äußerst schwierig, sich bei bestimmten gesellschaftlichen Phänomenen auf die Proportionen zu einigen. Ein Beispiel: das Auftauchen der Kriegskinder. Ihr Schicksal wurde 60 Jahre nach Kriegsende erstmals von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Vorher hatten sie im gesellschaftlichen Bewusstsein keinen Platz. Den Hauptanstoß gab 2005 ein in den Medien vielbeachteter Kriegskinderkongress in Frankfurt. Daran nahmen 600 Zeitzeugen teil. Eine Redakteurin fragte mich, als wir über den Kongress sprachen, ob es sich hier nicht um ein Modethema handeln könne, und mir entfuhr der Satz: »Wer beschäftigt sich schon freiwillig mit so einer Scheißzeit!« [...]