polar #21: Gegen die Angst
EDITORIAL
Peter Siller/Bertram LomfeldEditorial | Liebe Leserin, Lieber Leser,
die Angst grassiert momentan in den liberalen Gesellschaften. Angst vor den Geflüchteten. Angst vor dem Abstieg. Angst vor dem Terrorismus. Angst vor dem Kollaps. Aber welche Ängste sind eigentlich begründet? Und gegen welche Ängste müssen wir arbeiten, um andere nicht zu ihrem Opfer zu machen – und auch nicht uns selbst. Gegen die Angst.
Darüber hinaus ist genau hinzuschauen, wo Angst nur behauptet wird, um die Ansprüche anderer abzuwehren und die eigene »Identität« aggressiv zu behaupten. Wer sich auf »Angst« beruft, beruft sich auf ein subjektives Gefühl, nicht auf eine äußere Tatsache. Gefühle aber sind nicht kritisierbar, und gerade deshalb sollten wir die Angshypothese nicht ungeprüft lassen. Gerade in Zeiten einer neuen »identitären« Bewegung und zunehmender gesellschaftlichen Polarisierung ist es zudem eine politische Notwendigkeit deutlich zu machen: Man kann Ängsten begegnen, sie sichtbar machen, bearbeiten und auch überwinden. Wer Angst hat, ist nicht per se im Recht. Die Angst darf nicht das letzte Wort haben.
Angst steht in einem Zusammenhang mit dem »Unbeeinflussbaren« und auch »Unsichtbaren«. Und so hat die wachsende Angst wohl auch etwas mit den Ohnmachtsgefühlen in einer entgrenzten Welt zu tun. Affekte der Abschottung und Restauration sind die Konsequenz. Diese Ausgabe von polar sucht deshalb auch nach der Verteidigung der Demokratie und nach einer Zuversicht des Fortschritts, der trotz allem nach wie vor gute Gründe auf seiner Seite hat.
In seinem Eröffnungstext beschreibt Heinz Bude, an welchen sozialen Stellen sich in unserer Gesellschaft ein diffuses Systemmisstrauen breit macht und proträtiert dafür Prototypen der neuen Verunsicherten (S. 9). Was passiert, wenn sich verunsicherte Mittelschichten in einen Bildungswettlauf begeben, um durch maximale Investitionen die höchste Förderrendite aus ihren Kindern heraus zu bekommen, beschreibt im Anschluss Florian Gülzau (S. 15). Micha Brumlik ergründet in seinem Beitrag das theoretische Fundament der radikalen Rechten und stößt auf »identitäre« Bezüge insbesondere bei Dugin, Evola und auch Heidegger (S. 20). Karsten Rudolph hinterfragt den Nutzen von mehr Bürgerbeteiligung für die repräsentative Demokratie und setzt sich dabei kritisch mit der Idee einer »Konsultative« (Leggewie/Nanz) auseinander (S. 31). Julian Krüper seziert in seinem Beitrag die schwierige Causa der Vorsorge, die in der Theorie Ratio und Emotio zugleich befriedigen soll – in der Praxis aber gerade die Juristen vor große Herausforderungen stellt (S. 34). Um Vorsorge geht es auch im Text von Lars Koch (S. 39), nämlich um die neue Sehnsucht nach Mauern als Schutz vor dem Fremden oder Anderen – in der Politik wie in der Popkultur. Sabine Bode begibt sich auf die Spuren der Kinder des 2. Weltkriegs und fragt sich, welche Schatten die frühen Gewalterfahrungen dieser Generation bis heute auf unsere Gesellschaft werfen (S. 49). Maja Bächler nimmt diesen Ball auf und untersucht in ihrem Beitrag den Kampfbegriff der »German Angst« (S. 56).
Roland Schaeffer (S. 73) plädiert in zwanzig Thesen dafür, den alten Gegensatz von Sicherheit und Freiheit aus menschenrechtlicher Sicht zu überwinden und die Gesellschaft an der Herstellung ihrer Sicherheit zu beteiligen. Auch Christian Bommarius (S. 99) setzt sich in seinem Aufsatz mit dem Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit auseinander und warnt vor einseitiger Kriminalisierung und einer Fixierung auf Strafgesetzgebung. Sabine Rennefanz erzählt in ihrem sehr persönlichen Text zur »Wendegeneration« davon, wie es sich anfühlt, wenn Biografien durch historische Ereignisse durcheinander geschüttelt, Erfahrungen entwertet und Orientierungen genommen werden (S. 81). Um Ohnmachtsgefühle und enttäuschte Hoffnungen geht es auch bei Ina Kerner u. a., die gemeinsam mit ihren MitautorInnen für die Zuversicht einer »geselligen Gesellschaft« plädiert, für eine neue Kunst des Zusammenlebens (S. 91). Simon Strick beschreibt, wie es Donald Trump im US-Wahlkampf gelingt, die Ängste der Menschen für sich zu nutzen (S. 111). Die seelischen Widerstandskräfte in widrigen Lebenslagen beschreibt der Begriff Resilienz: Isabella Helmreich gibt einen Überblick über den derzeitigen Stand der Resilienzforschung (S. 115). Deniz Sertcan beschreibt Fremdenangst als Regression auf eine »konventionelle« Stufe der moralischen Entwicklung, obwohl diese Entwicklungsstufe eigentlich in der »postkonventionellen« Gesellschaft schon überwunden sei (S. 120).
Daniel Drezner geht in seinem Aufsatz der Frage nach, warum Zombies das scheinbar am schnellsten wachsende Thema internationaler Beziehungen werden konnte (S. 145). Hito Steyerl fragt schließlich in seinem Beitrag danach, was die Kunst den Politiken der Angst und ihrer Ästhetik entgegensetzten kann (S. 162).
Künstlerische Praxis zieht sich wie immer durch das ganze Heft: Im ersten und zweiten Teil skizzieren Zeichnungen der Musikerin und Malerin Catherine Lorent innere Angstzustände in Anlehnung an die Symbolik des Heavy Metal (S. 6). Von der Performer-Gruppe »Zentrum für politische Schönheit« stammen Bilder von Aktionen zu den Opfern der Flüchtlingskrise, insbesondere einer inszenierten Beerdigung vor dem Reichtstag (S. 64). Das Künstlerpaar Dellbrügge & de Moll thematisiert die Stellung der Künstler im Nationalsozialismus (S. 136). Im dritten Teil wird eine Performance des dänischen Künstlers Christian Falsnaes dokumentiert, bei der Randalierer das gut situierte Kunstpublikum einer Gruppenausstellung aufmischen (S. 158).
Wir wünschen eine gute Lektüre und Keine Angst für niemand (Tocotronic)!
Für die Redaktion Peter Siller, Bertram Lomfeld |
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