





polar #12: Eine für alle
EDITORIAL
VERSAMMLUNG
Martina Löw»Jede Stadt ist ein Seelenzustand«Über städtische Vergesellschaftung und Identitätsanforderung | »Jede Stadt ist ein Seelenzustand«, lässt Georges Rodenbach seinen Protagonisten Hugo Viane im Roman Bruges-la-mortes sagen. Nach dem Tod seiner Frau erträgt Viane die Stadt der gemeinsamen Liebe nicht länger und sucht einen Ort, der dem Witwerstand entspricht. Mit Brügge findet er eine neue Heimat, die in Schweigen und Schwermut ihm ähnlich zu sein scheint. »Dieses schmerzensreiche Brügge war seine Schwester«, schreibt er, gegenseitiges »Durchdringen von Seele und Dingen! Wir dringen in sie ein, wie sie in uns«.
Was Rodenbach hier 1904 zu beschreiben sucht, dass nämlich der Zustand der Stadt mit dem Betreten derselben in Menschen einwirkt, die Person erfasst und beeinflusst, gehört heute nicht mehr zu den selbstverständlichen Welterklärungen. Wohl aber haben wir uns daran gewöhnt, dass wir Personen ohne langes Nachdenken über die Städte, aus denen sie kommen, charakterisieren. Selbst Kurzvitas, wie sie Bewerbungen oder Dissertationen beigefügt werden oder auf Homepages gesetzt werden, beginnen nicht selten mit dem Hinweis auf den Geburtsort. Wenn man z.B. liest »geboren 1965 in Passau, Studium an der LMU München und an der TU Berlin«, dann werden drei Formate genutzt, um von der vorgestellten Person ein Bild zu erzeugen: Zeit, Raum und Institution. Alter und Dauer, z.B. des Studiums, sind wichtige Quellen zur Interpretation der Persönlichkeit, ebenfalls der Ruf der Hochschulen, die besucht wurden, aber auch die Orte erzählen uns eine Geschichte. In dem Fall wäre die Erzählung wie folgt: Aufgewachsen in der bayrischen Provinz, Wechsel in die bayrische Hauptstadt, größtmöglicher Autonomiebeweis in Deutschland durch freiwilligen Umzug zum preußischen Konkurrenten Berlin. Mit anderen Worten: Es gehört zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten, dass wir die Persönlichkeit eines anderen über die Vergesellschaftung durch Orte sowie über Ortswechsel bzw. Verweilen zu entschlüsseln versuchen. Wir nehmen an, dass wir dorthin ziehen, wo der Ort zu unserer Person passt, bzw. umgekehrt auch der Ort auf Dauer uns als Personen beeinflusst. Selbstverständlich kalkulieren wir ein, dass nicht jeder Wechsel freiwillig erfolgt, aber wenn man bleibt, wird man – so die Annahme – sich dem Ort nur schlecht entziehen können. Wer in Basel lebt, ist anderen Einflüssen ausgesetzt als in Genf oder in Zürich. Wer in Tel Aviv lebt, wird über andere Kontexte sozialisiert, als in Haifa oder in Jerusalem.
Das gilt ebenso für die Produktion von Wissenschaft. Simmels Werk ist tief von seinen Berliner Erfahrungen durchzogen, New York steht für das Theorieprogramm der World- und Global City-Forschung, wohingegen Los Angeles der postmodernen Forschung Fassung bietet. Die Beziehung zwischen Stadt- und Theoriegestalt kann ein aufschlussreiches Forschungsfeld sein. Dies gilt auch für die Produktion von Literatur: Thomas Mann hat bekanntlich in seinem Vortrag »Lübeck als geistige Lebensform« darauf bestanden, dass Lübeck zu einer persönlichen Lebensform, -stimmung und -haltung geführt habe, die nicht nur sein Werk Buddenbrooks, sondern alle seine Bücher beeinflusst hätte. Dieser Gedanke, dass die Welt- und Selbstsicht durch den räumlichen Kontext und die Atmosphäre der Stadt beeinflusst werde soll im Folgenden aufgegriffen werden, indem untersucht wird, wie personale Identität durch die Eigenlogik von Städten geprägt wird. [...] |

| Daniel A. Bell/Avner de-Shalit Civicism Plädoyer für ein Stadt-Ethos zwischen Kosmopolitismus und urbaner Partikularität
| Benjamin Steiner Zeitschichten Historische Überlegungen zur Zukunft von urbanen Räumen
| Christoph Twickel/Arnd Pollmann/Andrej Holm/Peter Siller Ist es links?: >Gegen Gentrifizierung<
| Friedrich von Borries Paradoxale Mobilität Raumeroberung und Raumkontrolle durch Mobilität
| Walter Siebel Ordnung und Chaos Bedingungen der urbanen Stadt
| Ludger Schwarte Die Stadt, eine Volksversammlung Architektonische Bedingungen freien Handelns
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UMGEHUNG
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