Liebe Leserin, Lieber Leser, die Stadt feiert ein großes Comeback. Ihre Lichter strahlen bis in die tiefste Provinz. Und alle wollen dabei sein. Die Jungen, weil was los ist. Die Mittelalten wegen der Dienstleistungs- und Kreativjobs. Und die Älteren, weil die Infrastruktur auf dem Land vor die Hunde gegangen ist. Aber können die Städte ihre großen Versprechen halten?
Teil der pulsierenden Stadt zu sein ist alles andere als einfach und die Ernüchterung kann schmerzlich sein. Gemeinsam alleine. Die Entwicklung ist widersprüchlich: Während bestimmte Städte massiv an Einwohnern und Einnahmen verloren haben, stehen andere vor einer beispiellosen Wachstumsphase. Und auch der Riss durch die Städte nimmt zu: Die »Gated Communities« wachsen ebenso wie die sozial schwachen Viertel. Die Stadt als Beute. Gleichzeitig sind die Städte Refugien für andere Lebensformen und Lebensstile, Laboratorien für andere Formen des Zusammenlebens, des Arbeitens, des Wohnens und der Mobilität. Die Stadt als Befreiung.
Entsprechend wurde über die Stadt in den letzten Jahren viel nachgedacht und geschrieben – und doch bleiben die einzelnen Gruppen seltsam unter sich: Stadtplaner reden mit Stadtplanern, Stadtpolitiker mit Stadtpolitikern, Stadttheoretiker mit Stadttheoretikern, Architekten mit Architekten, Künstler mit Künstlern. Und viele reden gar nicht mit.
Ludger Schwarte betrachtet in seinem einführenden Essay die Idee der Stadt als Volksversammlung, als republikanischen Ort der Auseinandersetzung. Martina Löw beschreibt anschließend in ihrem Beitrag, wie Stadt und Seele sich durchdringen, wie städtische Vergesellschaftung und Identitätsanforderung zusammenhängen. Für Walter Siebel manifestiert sich Urbanität hingegen im Zusammenspiel von Ordnung und Chaos, von rationaler Planung und spontaner Kreativität. Und Benjamin Steiner beschreibt Städte entsprechend nicht nur als Ausdruck einer dynamischen Modernisierung, sondern auch als monumentales Gedächtnis der Vergangenheit.
Daniel A. Bell und Avner de-Shalit plädieren in ihrem Beitrag für ein Stadt-Ethos zwischen Kosmopolitismus und urbaner Partikularität. Loïc Wacquant nähert sich in seinem Text dem unscharfen Begriff des »Ghettos«. Füsun Türetken zeigt in drei Episoden, wie 9/11 unser Bild von der Stadt verändert hat. Und Friedrich von Borries befasst sich in seinem Beitrag mit den Paradoxien urbaner Mobilität zwischen Freiheitsdrang und Raumkontrolle.
polar blickt auch in dieser Ausgabe über den Tellerrand hinaus: Nikita Alexeev bringt uns nach Moskau und zeigt, wie sich Architektur und öffentliche Zeichensetzungen seit dem 19. Jahrhundert verändert haben. Levente Polyák macht sich auf die Suche nach den »verwirrten Städten« Mitteleuropas. Im polar-Interview gibt Geoff Dench Auskunft über die bewegte Entwicklung des Londoner East End, des traditionellen Orts der englischen Arbeiterklasse, der inzwischen zum Szeneviertel geworden ist. Bianca Tavolari berichtet aus São Paulo von den aktuellen sozialen Kämpfen um leerstehende Wohnungen im alten Stadtzentrum. In ihrem Bildessay inspiziert Vera Tollmann den zentralen Platz der chinesischen Planstadt Ordos in der Inneren Mongolei. Und auch Arno Brandlhuber und Anna-Catharina Gebbers befassen sich mit städtebaulichen Phänomenen in Ordos – und schlagen eine Brücke nach Berlin, wo sie die Chance in Fragment und Collage entdecken.
Wir kehren also auch vor der eigenen Tür: Mit Blick auf Berlin zeigt Nina Brodowski am Beispiel der Bebauung des Berliner Schlossplatzes, wie sich die Hauptstadt als Mitte der Republik inszenieren will. Andreas Willisch berichtet in seinem Beitrag von den Umbrüchen in Wittenberge, wo in einem Langzeitprojekt von 2007 bis 2012 20 Sozialwissenschaftler und Theaterkünstler arbeiteten und wohnten. Anna Sailer, Anna-Catharina Gebbers, Judith Karcher und Peter Siller saßen schließlich zum polar-Gespräch im nassen Gras im Schrebergarten und sprachen über die literarische Renaissance der Provinz.
Und was macht die Kunst? Arne Schmitts Schwarz-weiß-Serie »Stadthaus« spiegelt den westdeutschen Traum, öffentlichen Raum stadtplanerisch neu zu erschließen und die architektonische Enge der unmittelbaren Nachkriegszeit zu überwinden. Dagegen erzählt die Kunststrecke von Karina Nimmerfall die kritische Geschichte vom offenen Scheitern utopischer Aspekte der modernen Architektur am Beispiel des sozialen Wohnungsbaus in Los Angeles. In Barbara Trautmanns Zeichnungen erwachen die einst als soziale Wunder gepriesenen, heute fast als Ghetto verschrieenen Plattenbauten zu einem neuen verwun-schenen Leben. Peter Pommerers Farbstrecke spielt mit der vielleicht urbansten aller Kunstformen, dem Graffiti. Auch die Literarischen Momente sprühen diesmal bunte Bilder. Die »Urbanen Utopien« stammen aus der Feder ganz unterschiedlicher Berliner Autoren und Künstler.
polar fragt in seiner zwölften Ausgabe nach dem Versprechen der Stadt. Wem gehört sie? Wer entscheidet über ihre Zukunft? Ein Heft über Stadtutopien und Stadtentwicklung, Nichtorte und öffentlichen Raum, über Megacities und den Stolz der Provinz.
Eine für alle? Eine für alle!
Für die Redaktion
Peter Siller, Bertram Keller