Es gibt Bands, mit denen geht man durchs Leben wie mit einem guten Freund. Was mir erst später auffiel, ich glaube, Tocotronic wollten, dass man ihr Freund war. Die drei ???. Dieses Modell konnte man auf den Covern der ersten vier Platten besichtigen, auf Aufklebern und Logos, es gehörte zur Bandpolitik. So gesehen waren Tocotronic eine echte Boyband. Teil einer Jugendbewegung wollten sie sein, wohlwissend, dass das unmöglich ist. Der Witz dabei: Wenn es in den neunziger Jahren einer Band in Deutschland gelungen ist, eine independent Jugendbewegung zu initiieren, dann waren es Tocotronic. Die Armee der freundlichen, traurigen Menschen.
Nach der vierten Platte schienen die Grenzen des Tocotronicschen Universums ausgelotet, und wir wussten nicht so recht, wie es weiter gehen sollte. Doch dann wurde das Unglück zurückgeschlagen und wir schlossen Blutsbrüderschaft. Die Musik wurde komprimierter, dunkler, intensiver, die Texte bildhafter, zeichenhafter, mystischer und die Stimme kräftiger. Neben Bernhard sangen plötzlich Argento und Lovecraft im Hintergrund mit.
Die Abwendung vom Sozialrealismus früher Tage führte zunächst sanft zu kristallklarem, artifiziellem Pop. Das weiße Album. This boy is Tocotronic. Alles sollte für sich stehen. Einer der Höhepunkte: Hi Freaks. Hier tauchen alle Existenzialia des Toco-Universums auf und werden wie in einem Kaleidoskop zusammengefügt, verworfen und neu zusammengesetzt. Jede Wendung ein Rätsel. „Unsere Freundschaft ist das Geld mit dem wir bezahlen was man zahlen muß: Alles muß im Überfluß vorhanden sein. Dann sind wir nie allein." Die Lösung?
Freundschaft als das Kapital der Network-Generation bei der Realisierung ihrer Start-up-Projekte? Also die Perversion von Freundschaft als ökonomisches Gut, als Ware? Die Einführung der fremdbestimmten Freizeit als Preis? Freundschaft als zentrale Institution nach dem Zerfall der Familie? Oder Freundschaft als die eigentliche Währung, die zählt? Eine Art Gegen-Ökonomie des Lebens, die eigenen Gesetzen folgt?
Wir dürfen das Rätsel nicht lösen, denn pure Vernunft darf niemals siegen. Mehr noch, die Gitarren singen es vom Himmel: Wir stehen kurz vor der Kapitulation. Und: Wir müssen das Rätsel auch nicht auflösen, denn wir werden Freunde bleiben.
"Hi Freaks" ist erschienen auf dem Album "Tocotronic", 10.Juni 2002, Rough Trade
Maxi CDs mit Remixen: "Hi Freaks 1" und "Hi Freaks 2", 30. September 2002, Rough Trade