Ein halbes Jahr später und schon bin ich noch tiefer drin in der Zone der Ununterscheidbarkeit. Je älter man wird, desto schwieriger fällt es offenbar, in der Popmusik Unterschiede zwischen Ähnlichem auszumachen. Führt über kurz oder lang kein Weg an der abgehangenen Geste des „Alles schon mal da gewesen" vorbei? Indifferent und ignorant, so will ja man auf gar keinen Fall werden. Aber als Felix Klopotek im letzten polar über die „Heerschar britischer Retro-Rockbands von Franz Ferdinand über Maximo Park bis Arctic Monkeys" lästerte, nickte ich komplizenhaft. Ja, finde ich auch, dass die auf ununterscheidbare Weise rocken und dem Regime falscher Bedürfnisse in die Hände spielen. Es folgte eine sentimentale Reminiszenz: Gab es nicht einmal eine Zeit, in der britischer Pop etwas anderes wollte, als bloß Gleichgesinnte um sich zu scharen und den Soundtrack für die narzisstische After Work-Unterhaltung der Mittelklasse zu liefern? Ich dachte an Two Tone-Bands wie die Specials, auch an die sozialen und ästhetischen Übergänge zwischen Punk und Reggae, oder an Northern Soul als hybrides Working Class-Phänomen. Die neuen Brit-Bands klingen dagegen seltsam aseptisch und monokulturell.
Zum Glück aber muss mein Sehnen nach ästhetischer Verschmutzung nicht im nostalgischen Off-Raum verwesen. So oft wie möglich legte ich in den letzten Monaten Platten des fantastischen Londoner Labels Honest Jon's auf. Hier wird ein London dokumentiert, das eine unübersichtliche Kontaktzone ist, wo sich Autochthone und Migranten aus Jamaika, Trinidad, Tobago, Nigeria, den Kapverdischen Inseln etc. unverabredet begegnen. In der Reihe „London is the Place for me" wird diese kulturelle Vielfalt der 50er und 60er Jahre regelmäßig kompiliert und gleichsam ortsspezifisch die postkoloniale Musikgeschichte Londons erzählt. Honest Jon's verdanke ich es, dass ich Musikstile wie Calypso, Kwela, Soca und High Life entdecken durfte. Während man diesen Musiken zuhört, kann man kongenial einen Zadie Smith-Roman lesen - oder aber die opulenten Platten-Beihefte, in denen unter anderem die Ankunft der einwandernden Musiker in London geschildert wird.
Doch nicht nur historisches Material erscheint auf Honest Jon's. Der ehemalige Specials-Sänger Terry Hall hat dort gemeinsam mit dem „Fun-da-mental"-Rapper Mushtaq eine der bezauberndsten Platten der letzten Jahre veröffentlicht: „The Hours of Two Lights" verbindet jüdische, arabische, asiatische und osteuropäische Stile zu einer weltläufigen Idee von Pop, ohne sich der öden Authentifizierungstricks einer ins Folkloristische abgleitenden „World Music" zu bedienen.
Und auch Blur-Sänger Damon Albarn hat auf Honest Jon's veröffentlicht, unter anderem die limitierte Doppel-10-Inch „Democrazy" mit Lo Fi-Demos, die er während einer Blur-Tour in Hotelzimmern aufgenommen hat. Ganz nebenbei liefert Honest Jon's eine schöne Anekdote zum Thema dieses Heftes: Das Label ist ein gelungenes Beispiel für modernes Mäzenatentum und die Umverteilung von ökonomischem und kulturellem Kapital; Damon Albarn steckt nämlich einen Großteil des Geldes, das er mit seinem Act Gorillaz verdient, in das Label.
Noch ein anderer Musiker, der ins Unsaubere arbeitet, hat mich in letzter Zeit so stetig begleitet wie meine Liebe und mein Tinitus: der in Köln lebende Engländer Adam Butler alias Vert. Sein neuestes Album „Some Beans & An Octopus" ist ein Musterbeispiel für verschmutzten Pop. Hier kommt zusammen, was aus Sicht des Reinheitsgebotes der erwähnten Neo-Rocker nicht zusammen gehören dürfte: Ragtime, HipHop, Grime, Zitatpop und elektronische Avantgarde. Ballast wird angehäuft statt abgeworfen, Vert weist so einen Pfad aus den Sackgassen von Purismus und Minimalismus. Zugleich ist „Some Beans & An Octopus" wohl das erste Album eines so genannten Laptop-Musikers, bei dem der Gesang wirklich einen Mehrwert erzeugt. Butlers schrullig-anekdotische Texte könnten auch als Spoken Word-Performance funktionieren. Abermals muss der tolle Terry Hall erwähnt werden, denn das Vert-Album erinnert an dessen spätere Bands Fun Boy Three und Colourfield - nicht zuletzt wegen der lad-haften Lässigkeit, mit der hier englische Exzentrik und eine nebulöse Melancholie zueinander finden. Wie die Platten auf Honest Jon's serviert auch „Some Beans & An Octopus" keine ungebrochen konsumierbare popkulturelle Identität, stattdessen ist die Platte geleitet von einer Philosophie des „Open House". So gesehen die perfekte Platte fürs Älterwerden, für jene Lebensetappen also, in denen man sich seine Ich-Konzepte anderswoher besorgt als aus der Popmusik.
Damon Albarn, Domocrazy, 7', Honest Jon's (4. Dezember 2003)
Terry Hall/Mushtaq, Hour of Two Lights, Honest Jon's (6. November 2003)
Vert, Some Beans & Octopus, Sonig/Rough Trade (6. Oktober 2006)